Deutsche gehen später in Rente: Mehrheit über 60 im Beruf
Wiesbaden (dpa) - Erstmals seit vier Jahrzehnten gibt es unter den 60- bis 65-Jährigen in Deutschland wieder mehr Erwerbstätige als Rentner. Im vergangenen Jahr arbeiteten 42 Prozent der Menschen dieser Altersgruppe, 40 Prozent erhielten eine Pension oder Rente.
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) erklärt die Trendumkehr mit veränderten Rahmenbedingungen: „Anreize zur Frühverrentung wurden stark reduziert, so dass Erwerbstätige heute länger im Beruf bleiben als früher“, sagt BiB-Experte Harun Sulak. Die restlichen 18 Prozent arbeiten nicht, haben aber auch keinen Anspruch auf eine Pension oder Rente - oft sind es Hausfrauen, wie BiB-Sprecher Christian Fiedler am Mittwoch in Wiesbaden erläuterte.
Zuletzt hatte es 1974 mehr Erwerbstätige als Rentner unter den 60- bis 65-Jährigen gegeben. Danach sank die Erwerbstätigenquote drei Jahrzehnte lang. Momentaufnahme zur Jahrtausendwende: Im Jahr 2000 genossen zwei von drei Vertretern der Altersgruppe schon den Ruhestand, nur jeder sechste arbeitete noch. Dann kehrte sich der Trend binnen zwölf Jahren um. Die Politik wollte die Beitragszahler länger im dem Rentensystem behalten, so stieg das Rentenalter von 65 auf 67 Jahre.
Nicht dass die Deutschen freiwillig länger zur Arbeit gehen. Gut 53 Prozent würden gern vor dem 60. Geburtstag aufhören, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut GfK unlängst im Auftrag der „Welt am Sonntag“. Wenn nur die Abschläge von der Rente nicht wären. Ökonomischen Druck sieht Clemens Volkwein, Demografieberater beim Arbeitgeberverband Hessenchemie, denn auch als Hauptgrund für den verzögerten Ruhestand. „Der Staat hat sich aus der Förderung der Frühverrentung weitgehend zurückgezogen.“
Doch es gibt auch die anderen Menschen 60+, neudeutsch auch Best Ager oder Silver Ager genannt, die gerne weiterhin arbeiten gehen. Die Leute sind heute fitter als früher, die Lebenserwartung steigt. Also werde die Erwerbsarbeit im siebten Lebensjahrzehnt weiter zunehmen, erwartet Bevölkerungsforscher Sulak.
Demografen wie Ökonomen wissen, dass die Generation, die kurz vor der Verrentung steht, gebraucht wird. Die Bevölkerung schrumpft, und den Fachkräftemangel kann die Wirtschaft nicht nur am unteren Ende der Altersskala beheben. „Das Potenzial von Menschen, die von unten in unsere Branche hineinwachsen können, schrumpft“, sagte Volkwein für die Chemie. Den anderen Industriezweigen geht es ähnlich.
Also müssen Firmen versuchen, ihre Angestellten länger zu halten. Dafür werden Arbeitsplätze umgestaltet, Abläufe werden weniger mühsam. Gesundheitsmanagement sei wichtig, sagt Volkwein. Die Fast-Ruheständler müssen ihr Wissen und ihre Erfahrung an die nächste Generation weitergeben. Ein großes Problem erwartet der Experte nach 2020. Denn dann werden die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge, die Babyboomer, im Ruhestand sein. Nachwuchs wird endgültig knapp.