Vorbild Schweiz Per Video-Chat zum Arzt - Risiken und Chancen

Telemedizin wird den Markt für Gesundheit in Deutschland verändern - in der Schweiz ist sie Gang und Gäbe. Neue Anbieter hoffen auf gute Geschäfte. Patienten können Wege und Wartezeiten sparen.

Foto: dpa

Düsseldorf. Wochenende, halb vier in der Nacht zum Sonntag, das Kind wird wach. Es schreit, hustet, hat Schweiß auf der Stirn und muss brechen. Vermutlich nichts wirklich Schlimmes. Trotzdem wäre es gut, jetzt einen Arzt um Rat fragen zu können. Der Weg in die Notaufnahme der Klinik scheint übertrieben. Hilfe per Videosprechstunde oder Telefon würde sehr helfen. Und am besten gleich das Rezept für das vielleicht notwendige Medikament bekommen.

Utopie? Nein, das gibt es. Nicht in Deutschland, aber in der Schweiz. Dort sitzt der Telemedizin-Anbieter Medgate. Das Unternehmen besteht bereits seit fast 20 Jahren und ist an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr erreichbar. Mediziner beraten, geben Diagnosen ab und überweisen — wenn nötig — zu niedergelassenen Ärzten oder Kliniken. Sie stellen auch Rezepte aus, die sofort in der gewünschten Apotheke verfügbar sind.

Medgate hat sich zum größten europäischen Telemedizin-Anbieter entwickelt. Täglich werden bis zu 4900 Beratungen durchgeführt. Die Kassen freut es. Weil die Patienten besser durchs System geführt werden, sinken die Kosten, es gibt weniger direkte Kontakte zwischen Arzt und Patient.

Zu den großen Befürwortern der Telemedizin gehört die Techniker Krankenkasse (TK), Deutschlands größte gesetzliche Kasse. Sie fordert, dass das Fernbehandlungsverbot aufgehoben wird, „weil das ein Anachronismus ist“, wie Günter van Aalst, TK-Chef in NRW, sagt.

Das Fernbehandlungsverbot sieht vor, dass ein Arzt einen Patienten persönlich untersucht haben muss, bevor er Telemedizin einsetzen darf. Erstdiagnosen via Telefon oder Videoschalte sind strikt untersagt. Auch Krankschreibungen oder Arzneiverordnungen dürfen nicht ohne persönlichen Kontakt erfolgen.

Aber so wird es nicht bleiben. Beim nächsten Ärztetag im Mai in Erfurt stehe das Thema auf der Tagesordnung, sagt der Vorsitzende des Telematik-Ausschusses in der Bundesärztekammer, Franz Bartmann. Die Kammerexperten seien sich einig, Medizinern bei einfachen Krankheitsfällen Beratung und Diagnosestellung auch über Bildschirm und Telefon zu erlauben, ohne dass sie die betroffenen Patienten vorher in der Praxis hatten. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das auch beschlossen werden“, so Bartmann.

Auch die Politik sperrt sich nicht. Das Verbot einer Erstbehandlung über Telemedizin müsse auf den Prüfstand, verlautet aus dem Bundesgesundheitsministerium.

Davon könnten viele Patienten profitieren: Landbewohner, die wegen medizinischer Bagatellen oft große Strecken zurücklegen müssen. Berufstätige, die keine Zeit haben, stundenlang im Wartezimmer zu verbringen. Ältere oder Pflegebedürftige, denen der anstrengende Weg zum Arzt erspart bliebe. Erkältete, die sich zu Hause schonen könnten, statt ihre Viren unters Volk zu bringen.

Hinzu kommt: In vielen ländlichen Regionen nähert sich die Mehrheit der niedergelassenen Ärzte dem Pensionsalter. Telemedizin könnte ein geeignetes Mittel sein, die Auswirkungen des absehbaren Ärztemangels abzumildern.

Vorbild für eine Lockerung ist Baden-Württemberg. Dort hat die Landesärztekammer zwei Modellprojekte genehmigt, mit denen Ärzte auch unbekannte Patienten online beraten dürfen.

Beteiligt an dem Modellversuch ist das Münchner Start-up Teleclinic, das über eine gleichnamige App Videoberatung bei mehr als 200 Ärzten vermittelt. „Das ist ein wahnsinnig umkämpfter Markt“, sagt Teleclinic-Mitgründer Patrick Palacin. Nach seinen Angaben gibt es in den USA zwei erfolgreiche Konkurrenten, die IT-Konzerne im Rücken haben: Doctor on demand (Google) und MDLive (Microsoft). „Wir sind nicht blauäugig, wir schätzen: Drei bis fünf Jahre, dann kommt Google hier rein“, so Palacin.

Dass kommerzielle Anbieter den deutschen Gesundheitsmarkt erobern können, ist aber längst nicht ausgemacht. Denn hierzulande gibt es zahlreiche Regulierungen, insbesondere bei der Abrechnung von Leistungen. Eine offene Frage ist auch, ob und inwieweit die Patienten in Deutschland bereit sind, ihre Krankheits- und Gesundheitsdaten mit Google & Co. zu teilen.