ThyssenKrupp-Chef prangert Führungsversagen an
Essen (dpa) - Es ist der Tag der Abrechnung nach Horror-Zahlen und einer Serie von Kartell- und Korruptionsfällen bei ThyssenKrupp. Bei der Bilanzvorlage am Dienstag in Essen fordert Konzernchef Heinrich Hiesinger einen tiefgreifenden Wandel des Traditionskonzern und prangert massives Führungsversagen an.
„Ich werde hier nichts beschönigen, denn es ist offensichtlich, dass in der Vergangenheit sehr viel schief gelaufen ist“, sagte der erst seit Anfang 2011 amtierende Manager. Der größte deutsche Stahlkonzern muss wegen Fehlinvestitionen in Übersee einen Rekordverlust von fünf Milliarden Euro im Ende September abgelaufenen Geschäftsjahr verkraften.
Der Aufsichtsrat hatte am Vorabend den halben Vorstand zum Ende des Jahres vor die Tür gesetzt. Auch das Stahlgeschäft in Europa macht inzwischen Probleme. An der Börse kam der neue Kurs des Konzernchefs gut an. Die ThyssenKrupp-Aktie legte bis zum Mittag fast 6 Prozent zu und setzte sich damit an die Dax-Spitze.
Hintergrund der tiefen Krise sind vor allem massive Verluste beim Bau von Stahlwerken in Brasilien und den USA. Auf die mittlerweile zum Verkauf stehenden Stahlwerke mussten weitere rund 3,6 Milliarden Euro abgeschrieben werden. Hiesinger nannte das Ausmaß der Fehlinvestitionen dramatisch. Seit sieben Jahren habe der Konzern mehr Geld ausgegeben, als hereingekommen ist.
„Das Desaster bei Steel Americas hat uns gezeigt, dass unsere Führungskultur an vielen Stellen des Unternehmens versagt hat“, sagte Hiesinger. Seilschaften und blinde Loyalität seien bei ThyssenKrupp oft wichtiger gewesen als unternehmerischer Erfolg. „Es wurde eine Kultur gepflegt, in der Abweichungen und Fehlentwicklungen lieber verschwiegen als korrigiert wurden.“ Zudem habe offenbar bei einigen die Ansicht vorgeherrscht, dass „Regeln, Vorschriften und Gesetze nicht für alle gelten“, kritisierte Hiesinger.
Rund 50 Mitarbeiter hat er seit seinem Amtsantritt Anfang 2011 wegen unsauberer Geschäftspraktiken gefeuert. Hiesinger erklärte, bei Verstößen keine Toleranz zu zeigen, selbst wenn der Konzern anschließend vor Arbeitsgerichten verlieren sollte. „Dieses Signal ist entscheidend“, sagte der Manager. Dies sei auch eine Lehre aus den Korruptionsfällen bei seinem früheren Arbeitgeber Siemens und ein wichtiges Signal an alle Beschäftigten.
Hiesinger kündigte nach Fällen von unsauberen Geschäftspraktiken an, eine neue Unternehmenskultur etablieren und alte Strukturen aufbrechen zu wollen. Gleich reihenweise müssen nun Top-Manager ihren Hut nehmen: Der für gute Unternehmensführung (Compliance) zuständige Jürgen Claassen muss ebenso wie Technologiechef Olaf Berlien und Stahlchef Edwin Eichler zum Jahresende gehen. Über eine Neubesetzung des Vorstands sei noch nicht entschieden, sagte Hiesinger. Den Vorständen wird vorgeworfen, bei den Problemen nicht richtig durchgegriffen zu haben.
Hiesinger verteidigte die Rolle des Aufsichtsrats unter dem Vorsitz des zuletzt ebenfalls hart kritisierten Gerhard Cromme. Das Kontrollgremium hatte alle Entscheidungen in Brasilien und den USA mitgetragen. Die Angaben des früheren Managements unter Hiesingers Vorgänger Ekkehard Schulz hätten sich als zu optimistisch und auch als falsch herausgestellt. Die Rolle des alten Vorstands und mögliche Schadensersatzforderungen lässt der Aufsichtsrat inzwischen erneut prüfen. Ein Ergebnis der Auswertung soll im Januar vorliegen.
Kleinaktionäre forderten dagegen eine offene Diskussion auch über die Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden. Bei der Hauptversammlung im Januar will sich der Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Thomas Hechtfischer, nur dann für eine Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat aussprechen, wenn zuvor die notwendige Transparenz geschaffen worden sei, teilte er mit.
Der mit 5,8 Milliarden Euro hoch verschuldete Konzern befinde sich in einer ernsten Lage, sagte Hiesinger. Nach den dramatischen Fehlinvestitionen in neue Stahlwerke in Übersee macht nun auch das Stahlgeschäft in Europa immer größere Probleme. Auch ein Abbau von Arbeitsplätzen sei nicht ausgeschlossen.
Im Stahlgeschäft in Europa war im Ende September abgelaufenen Geschäftsjahr der operative Gewinn um fast 80 Prozent auf 247 Millionen Euro eingebrochen. Der Konzern leidet unter der schwachen Nachfrage und dem großen Preisdruck. Der Abwärtstrend setzte sich seit Oktober fort. Der Konzern erwartet deshalb im ersten Quartal seines neuen Geschäftsjahres niedrigere Erlöse und einen geringeren Absatz. Dennoch soll es - anders als bei den meisten europäischen Konkurrenten - noch einen Gewinn geben. Die seit August laufende Kurzarbeit von Teilen der 17 500 Stahlarbeiter in Deutschland möchte ThyssenKrupp verlängern.