Baukastensysteme bei Motorrädern - Qual der Wahl

Bergisch Gladbach/München (dpa/tmn) - Motorräder sind Sportgeräte, die meist nur bei schönem Wetter auf die Straße kommen. Laut Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) sind in Deutschland derzeit etwa 4 Millionen Motorräder angemeldet - gegenüber 43,9 Millionen Autos.

Die geringen Stückzahlen machen Motorräder in der Entwicklung und Produktion teuer. Deshalb entwickeln immer mehr Motorradhersteller Baukastensysteme. Mit einem gleichen Rahmen werden verschiedenen Typen entwickelt. Dadurch lassen sich die Stückzahlen von einzelnen Komponenten, Motoren und Getriebe erhöhen, die Einzelpreise sinken. Neben BMW setzen unter anderem die Hersteller Ducati, Honda, Harley-Davidson, Triumph und Yamaha auf die Plattformstrategie.

„Ähnlich wie in der Automobilindustrie, wo noch stärker auf der Basis gemeinsamer Plattformen neue Modelle entwickelt werden, verwendet die Zweiradindustrie teilweise auch Baukastensysteme“, sagt Reiner Brendicke vom Industrie-Verband Motorrad. Hohe Entwicklungskosten macht diese Strategie attraktiv, da sie deutlich effizienter ist. „Grundsätzlich erschließen sich für den Motorradbereich die gleichen Vorteile wie im Automobilbereich. Dazu zählen eine effizientere Entwicklung, höhere Stückzahlen bei diversen Teilen und eine effizientere Montage“, sagt Josef Miritsch, Leiter der Boxer-Baureihe bei BMW Motorrad.

„Motorradhersteller machen eine ähnliche Entwicklung durch wie vor einigen Jahren Autohersteller“, sagt Prof. Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive der Fachhochschule Wirtschaft (FHDW) in Bergisch Gladbach. „Mit Baukastensystemen werden die Stückzahlen einzelner Bauteile erhöht und gleichzeitig die Fixkosten gesenkt.“ Auch die Produktentwicklung wird so beschleunigt. So können die Hersteller rascher auf Trends reagieren. Aufgrund der geringeren Komplexität in der Entwicklung ist auch die Qualität der Bauteile höher. Davon profitiert der Kunde - ebenso wie von einem effizienteren Ersatzteilmanagement, niedrigeren Preis und einer größeren Modellvielfalt.

Allerdings zwinge das Baukastensystem die Hersteller in ein straffes Korsett. „Es gibt Einschränkungen bei der Entwicklung. Nicht jeder Wunsch der Designer oder Ingenieure kann realisiert werden“, sagt Bratzel. Je ausgeklügelter die Plattformstrategie sei, desto mehr Möglichkeiten gibt es für verschiedene Modelle.

Trotz vieler gleicher Teile soll beim Käufer natürlich keine Eintönigkeit entstehen. „Den Unterschied müssen Motorradfahrer sehen und spüren, sonst werden sie enttäuscht“, sagt Bratzel. Josef Miritsch ist sicher, dass das nicht passieren kann. „Auch mit weitgehendem Komponentenbaukasten lassen sich die unterschiedlichsten Fahrzeugkonzepte mit unterschiedlichen Charakteren darstellen“, sagt er. Allerdings ist den meisten Motorradkäufern bewusst, dass sie ein Modell einer bestimmten Baureihe mit gleichen Komponenten kaufen. Im Gegensatz zum Automobil lassen sich beim Motorrad viele Bauteile nicht verstecken. Motorradfahrer sind auch meist aktive Kunden, die sich auch für die Technik ihrer Fahrzeuge interessieren.

Und der Baukasten ermöglicht einiges an Variation: Motorrad-Modelle einer Baureihe können sich durch Veränderungen der Räder, Kraftstofftank, Lenker, Sitzbank und Fußrasten völlig unterschiedlich fahren. Ein Roadster hat praktisch keine Verkleidungsteile, ist leichter und wendiger. Ein Tourer verfügt über viele Karosserieteile, ist schwerer, aber ideal für eine längere Tour. Bei einem Sportler sitzt der Pilot ganz eng am Tank und Lenker. Neben der Verkleidung und der Sitzhöhe bestimmen Fahrwerksgeometrie, Motorlage und Lenkung den Charakter eines Motorrades. „Mit gleichem Motor und Rahmen lassen sich völlig unterschiedliche Fahrzeuge bauen, da alle anderen Komponenten, die Fahrverhalten und Optik beeinflussen, entsprechend problemlos modifiziert werden können“, sagt Reiner Brendicke. Auch über die Anpassung der Antriebs-Übersetzungen lassen sich Produkteigenschaften differenzieren.

Für den Kunden bedeuten Baukastensystemen kaum Nachteile, eher profitieren sie vom geringeren Neupreis und guter Ersatzteilversorgung, sagt Reiner Brendicke. Einen Nachteil hat die Plattformlösung aber. Muss eine tausendfach verbaute Komponente wegen eines Produktions- und Entwicklungsfehlers ausgetauscht werden, ist gleich die ganze Modellpalette betroffen.