Schuld oder nicht? - Wann Kinder im Verkehr haften

Celle (dpa/tmn) - Es ist das größte Schreckenserlebnis für Eltern und Autofahrer: Ein Kind läuft unvermittelt auf die Fahrbahn. Neben der menschlichen Tragödie, die mit möglichen Verletzungsfolgen verbunden ist, stellt sich die Haftungsfrage.

Die ist mitunter kompliziert.

Zwar haften Kinder unter sieben Jahren überhaupt nicht. Und der Gesetzgeber hat die Haftung von Kindern zwischen sieben und zehn Jahren auf vorsätzlich verursachte Schäden begrenzt. Doch diese Haftungsbegrenzung entfällt nach dem Wortlaut des Gesetzes schlagartig mit dem Tag der Vollendung des zehnten Lebensjahres.

Vor diesem Hintergrund streiten die Gerichte, wann Kindern, die das zehnte Lebensjahr überschritten haben, die volle Verantwortung für Unfälle anzulasten ist. Das Oberlandesgericht (OLG) Celle hat dies beispielsweise in einem Fall so gesehen, in dem ein knapp Elfjähriger unvermittelt auf die Straße gelaufen war (Aktenzeichen: 14 W 13/11). Auch andere Gerichte, wie etwa die Oberlandesgerichte Hamm (Az.: 13 U 179/08), Frankfurt (Az.: 14 U 149/07) und Oldenburg (Az.: 1 U 80/07) sowie das Kammergericht Berlin (Az.: 12 U 178/09) haben ebenso geurteilt und das sorglose Überqueren der Straße durch einen Minderjährigen als einen besonders schweren Verstoß gewertet.

Ebenso neigt der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe zu dieser Auffassung, denn er hat die Revision gegen das Urteil des OLG Hamm nicht angenommen (Az.: VI ZR 296/09). Dieser Fall war besonders tragisch, denn der verletzte Junge hatte gerade erst vor sieben Tagen das zehnte Lebensjahr vollendet, als er hinter einem an einer Ampel stehenden Lastwagen auf die Straße rannte und von einem Pkw erfasst wurde.

Die volle Haftung von Kindern wird von den Gerichten aber nicht nur beim unvorsichtigen Überqueren der Straße angenommen, sondern auch, wenn sie - beispielsweise mit einem Fahrrad - aktiv am Straßenverkehr teilnehmen. So hat das OLG Nürnberg einem zwölfeinhalb Jahre alten Jungen die volle Haftung auferlegt, der wegen zu hoher Geschwindigkeit mit seinem Fahrrad mit einem langsam fahrenden Pkw kollidierte (Az.: 13 U 901/05). Auch in diesem Fall hat der BGH die Annahme der Revision abgelehnt (Az.: VI ZR 184/05).

Das Amtsgericht Wismar wertete das Überfahren eines Stoppschildes mit dem Fahrrad als gravierenden Verkehrsverstoß eines Zwölfjährigen (Az.: 12 C 298/05). Das Landgericht Stade sah die volle Verantwortlichkeit eines zehneinhalb Jahre alten Kindes, das bei geschlossener Bahnschranke die Gleise überquert hatte und von einem Zug erfasst wurde (Az.: 2 S 59/08).

Andere Gerichte wie die Landgerichte Kleve (Az.: 5 S 135/09) und Dortmund (Az.: 21 O 55/08) sowie das Amtsgericht Essen (Az.: 11 C 98/10) sehen bei Unfällen im Straßenverkehr in Kindern eher Opfer als Täter. Sie lehnen deshalb jeden Automatismus in dem Sinne ab, dass ein Kind mit Vollendung des zehnten Lebensjahres in jedem Fall auch schon in vollem Umfang haften müsse. Der Verfassungsgerichtshof Berlin argumentierte in einem Fall sogar, die Gerichte seien zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Kinder verpflichtet, bei Minderjährigen eine Haftungsbegrenzung besonders intensiv zu prüfen (Az.: VerfGH - 31/09).