Analyse: Amazon testet Marktposition als Druckmittel
Berlin/Seattle (dpa) - Erst war es nur ein Konflikt zwischen einem US-Verlag und dem Online-Händler Amazon. Dann wurden die Leser in den Streit hineingezogen, weil sie Bücher nicht kaufen konnten. Jetzt weitet sich die Kontroverse mit Protesten von Autoren aus.
Das Vorgehen hat System: Erst verschwindet bei Amazon der Knopf für Vorbestellungen bei anstehenden Veröffentlichungen. Zudem werden in bestimmten Fällen auch die Lieferzeiten bei Büchern oder DVDs plötzlich länger. Im Frühjahr traf es so den Medienkonzern Time Warner in den USA, während er mit Amazon über einen neuen Vertriebsdeal verhandelte. Nach der Drohgebärde waren die Gespräche binnen weniger Wochen abgeschlossen.
In diesen Tagen ist Disney an der Reihe: Amazon-Kunden können sich zum Beispiel den schon Anfang September erscheinenden Kinohit „Captain America: Winter Soldier“ nur als Videostream aus dem Netz vorbestellen, nicht aber als Disc. Amazon setzt ganz offensichtlich seine Marktposition als Druckmittel in Verhandlungen mit der Medienindustrie ein.
Der Konzern macht keinen Hehl daraus, seine Muskeln in den Verhandlungen spielen zu lassen. So habe der US-Verlag Hachette zunächst drei Monate lang gemauert und sich erst zähneknirschend mit den Amazon-Argumenten auseinandergesetzt, „als wir Maßnahmen ergriffen, den Verkauf ihrer Titel in unserem Store zu reduzieren“, rechtfertigte sich das Unternehmen nach einem Protestbrief von gut 900 amerikanischen Schriftstellern.
Im Ringen mit Hachette war Amazon bisher am weitesten gegangen: Während Bücher nicht verfügbar waren, wurde Kunden empfohlen, sich bei Titeln anderer Verlage umzusehen. Betroffen war auch das unter Pseudonym geschriebene neue Buch der „Harry-Potter“-Erfinderin J.K. Rowling.
Die 909 Autoren, darunter Stars wie Stephen King und John Grisham, kritisierten, Amazon nehme mit diesem Vorgehen Bücher als Geiseln. Der Konflikt schwappte inzwischen auch nach Deutschland über: Über 100 deutschsprachige Schriftsteller werfen Amazon in einem Protestbrief vor, Autoren und ihre Bücher als Druckmittel zu nutzen. Laut „Handelsblatt“ von Donnerstag gehören zu den Unterzeichnern des Briefes Autoren wie Ingrid Noll, Nele Neuhaus und „Tatort“-Drehbuchautor Fred Breinersdorfer.
„Wir müssen die Leser aufklären, dass die Manipulation der Empfehlungslisten und die verzögerte Auslieferung von Büchern, deren Verlage sich gegen Amazon wehren, zum Alltag bei Amazon gehören“, sagte Regula Venske, Generalsekretärin des PEN-Zentrums Deutschland, der Zeitung.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hatte sich bereits beim Bundeskartellamt über den Online-Händler beschwert. „Ein Unternehmen wie Amazon darf keine Regeln diktieren, die wertschaffende Strukturen auf dem Buch- und Literaturmarkt zerstören“, kritisierte Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis. Amazon musste sich vor einigen Wochen gegen den Vorwurf wehren, im Zuge von Verhandlungen die Auslieferung gedruckter Bücher aus der Verlagsgruppe Bonnier (Ullstein, Piper, Carlsen) verzögert zu haben.
Nun ist Amazons Gründer und Chef Jeff Bezos niemand, den man mangelnden Respekts für Bücher verdächtigen könnte. Seine Ehefrau MacKenzie Bezos ist selbst Schriftstellerin. Bücher haben ihn reich gemacht: Amazon war beim Start 1994 ein reiner Online-Buchhandel. Bezos liest: Sein Lieblingsbuch sei „Was vom Tage übrig blieb“ von Kazuo Ishiguro, hieß es in der Biografie „Der Allesverkäufer“.
Allerdings ist Bezos zugleich frei von jeder Sentimentalität gegenüber dem gedruckten Buch und dem klassischen Handel mit seinen Läden aus Stein und Glas. Bücher seien als erstes Produkt vor allem wegen ihrer Beschaffenheit ausgesucht worden, erinnerte sich Bezos damaliger Mitstreiter Shel Kaphan im „New Yorker“: Einfach zu verschicken und kaum zu beschädigen. Außerdem bot sich der Markt für Online-Handel geradezu an: Die Auswahl an Titeln ist so groß, dass sie in keinen Buchladen der Welt reingepasst hätte.
Auch für die Händler, die unter dem Druck der Online-Konkurrenz vor allem in den USA reihenweise aus dem Geschäft gingen, zeigt Bezos wenig Mitleid. „Die Kunden entscheiden, wo sie kaufen, nicht wir“, sagte er in einem Interview vor knapp zwei Jahren. „Es ist unser Job, den Kunden das beste Angebot und den besten Service zu bieten.“
Zudem fällt das Duell mit Hachette in eine Zeit, da Amazon stärker als früher sein Geld zusammenzuhalten versucht. Im vergangenen Quartal gab es einen Verlust von 126 Millionen Dollar, für das laufende Vierteljahr stellte der Konzern sogar ein operatives Minus von über 800 Millionen Dollar in Aussicht. Die Entwicklung neuer Geräte wie des ersten eigenen Smartphones ist teuer, zudem vermuten Analysten, dass auch das riesige Geschäft mit Cloud-Infrastruktur nach Preissenkungen alles andere als ein Gewinnbringer ist.
So geht es auch in den aktuellen Konflikten mit den Inhalte-Anbietern um Geld. Von Hachette verlangt Amazon niedrigere E-Book-Preise und eine höhere Provision. Bei Disney will der Online-Händler nach Informationen des „Wall Street Journal“ auch erreichen, dass der Unterhaltungskonzern die Verluste ausgleicht, wenn Amazon bei Rabattaktionen anderer Händler mitzieht.
Zumindest in den USA dürfte Amazon mit seinem Druck in den Verhandlungen mit Hachette oder Disney bei den Kartellwächtern durchkommen, sagte Wettbewerbsexperte Seth Bloom der Finanznachrichtenagentur Bloomberg. „Man kann Amazon nicht zwingen, ein bestimmtes Produkt zu verkaufen, ob Buch oder Film.“ Solange ein Unternehmen nicht versuche, höhere Preise durchzusetzen oder seine Marktposition auf unlautere Weise zu verteidigen, hielten sich die Aufpasser heraus.