Literatur neu begegnen Goethe, Schiller, Kafka, Playmobil: So funktioniert der Deutschunterricht in Wuppertal heute
Wuppertal · Wie funktioniert Deutschunterricht heute? Die WZ sprach mit Anja Kroll und Frank Schneider vom Carl-Fuhlrott-Gymnasium.
Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die gewaltigste. Dieses Zitat von Heinrich Heine könnte kaum passender sein für Anja Kroll und Frank Schneider, die als Deutschlehrer am Carl-Fuhlrott-Gymnasium in Cronenberg die Kraft der Literatur täglich neu vermitteln. Doch wie funktioniert Deutschunterricht heute? „Hefte raus, Klassenarbeit!“ Gibt es das noch? Und wenn, ja, worüber? Gehört Goethes Faust immer noch zum Kanon oder wären Schüler von heute nach dessen Lektüre „so klug als wie zuvor“? Im Gespräch mit der „Wuppertaler Auslese“, dem Podcast der WZ, erzählten die beiden, wie man die gewaltigen Welten der Literatur der Generation Smartphone zugänglich macht und relevant hält. Oder um es mit den Worten der Literatur zu sagen: „Manchmal ist es Zeit, mit einem neuen Bild zu beginnen.“
Um es vorwegzunehmen: Es gibt noch Bücher. Gedruckt. Mit Seiten, die man umblättern kann. „Und sie waren am ersten Tag nach den Herbstferien unsere Rettung, weil es kurzfristig seitens der Stadt kein W-Lan gab“, sagt Anja Kroll. „Normalerweise arbeite ich viel digital, zum Beispiel mit einer PowerPoint-Präsentation.“ Bücher hingegen seien nicht von der Technik abhängig. Allerdings gebe es parallel zu den gedruckten Werken auch E-Books. „Dadurch brauchen die Schüler die Schulbücher nicht immer hin- und herzutragen. Wir kennen ja noch diese riesigen Tornister, die größer und schwerer als die Kinder selbst sind – gerade in der fünften Klasse.“
Effi Briest, Emilia Galotti, Oskar Matzerath. Es sind Namen, die viele Schüler von einst nicht vergessen werden – ob aus Frust oder aus Faszination. Doch inwieweit sind solche Literaturklassiker noch Kanon im Unterricht? „,Der Besuch der alten Dame‘ von Friedrich Dürrenmatt wird in der Sekundarstufe I noch gern gelesen“, weiß Anja Kroll. Auch „Die Physiker“. Und Goethes „Faust“ habe lange im Zentralabitur zur Pflichtlektüre gehört. Völlige Freiheit zur Gestaltung des Unterrichts gebe es nicht mehr: „In der Oberstufe ist die Hälfte der Werke durch eine bundeseinheitliche Vereinbarung vorgegeben“, sagt Frank Schneider.“ Dennoch sei eine gewisse Auswahl möglich: „Ich habe meiner elften Klasse fünf Dramen angeboten, drei davon waren aus unseren Tagen, aber die Klasse hat sich für Schillers Räuber entschieden.“ Ein Werk, das zwar 140 Jahre alt sei, aber Themen beinhalte, die auch die heutige Generation interessieren würde: „Bruderzwist, Familienstreitereien, Verbrecher aus verlorener Ehre.“
Seine 45-jährige Kollegin machte ähnliche Erfahrungen mit Prosawerken: „Ich hatte Abiturienten zum Beispiel den Roman „Qualityland“ von Marc-Uwe Kling vorgestellt. Darin geht es um Künstliche Intelligenz, die das Leben der Menschen übernimmt.“ Doch stattdessen hätten sie sich für E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ entschieden. „Ich hoffe, die Entscheidung basierte nicht nur auf dem Umfang der Lektüre, das ist ja eine kürzere Erzählung, sondern auf dem Inhalt: Es geht um Kindheitstraumata. Und das sind in der Tat psychologische Themen, die Schüler sehr interessieren.“ Allgemein könne man sagen, dass Werke, die 200 Jahre überlebt haben, etwas ansprechen, „was in uns Menschen vertreten ist, ganz unabhängig von der Epoche“, rekapituliert Schneider. „Warum liest man sonst den Kafka? Franz Kafka ist 1924 gestorben und trotzdem sagt man, dass er der Autor des 21. Jahrhunderts ist.“
Mit der Hand zu schreiben, ist eine Herausforderung geworden
Wenig verwunderlich: Die Methoden, Lektüre im Unterricht zu verarbeiten, haben sich erweitert. „Natürlich funktioniert es immer noch, darüber zu sprechen, aber es gibt ein zweites Bein, das genauso wichtig ist, nämlich mit der Literatur handelnd umzugehen.“ Durch szenisches Spiel. Oder Skulpturen. „Das spricht Schüler an, die weniger analytisch darüber reden, sondern es in einem Bild ausdrücken können. Schneider nennt es „verwickelt werden in die Literatur“. Auch durch Filme und Videos, das sowieso. Zum Roman „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger gibt es im Internet eine Zusammenfassung, die als Stop-Motion-Film mit Playmobilfiguren realisiert wurde“, sagt Anja Kroll. „Die habe ich den Schülern zur Vorbereitung empfohlen.“ Gibt es auch zum Erlkönig. Oder zu Woyzeck.
Wird also nur noch geklickt und nicht mehr geschrieben? Geschweige denn, dass Schüler von heute noch einen Füllfederhalter verwenden? „Diese Generation schreibt wahrscheinlich so viel wie keine andere Generation vor ihr“, findet Frank Schneider. „Aber nicht in der Form, wie wir das sonst aus dem Deutschunterricht kennen.“ Gleichwohl müsse ein Oberstufenschüler eine Klausur händisch schreiben – viereinhalb Stunden. Oder wie Friedrich Schiller es im Lied von der Glocke ausdrückte: „Dass er im innern Herzen spüret, was er erschafft mit seiner Hand.“
Frank Schneider bekennt, dass er diese Herausforderung persönlich gar nicht mehr durchhalten würde, „weil wir ja auch nur noch am Rechner tippen. Wir verlangen von den Schülern also Dinge, die uns selbst nicht mehr vertraut sind.“ Die Lösung: „Leserlich und verständlich schreiben zu können, das bleibt die Grundlage, aber wir übertreiben es nicht.“ Es gehe auch nicht mehr darum, zig Rechtschreibregeln zu lernen, sondern Strategien zu finden, „mit denen man den größten Teil der Rechtschreibung knacken kann“, formuliert es der 61-Jährige.
Doch abseits der Rahmenbedingungen, in denen Unterricht stattfindet, bleibt die Begeisterung für Literatur auch nach Jahrhunderten dieselbe: „Ich darf in ihr fremde Welten erleben“, beschreibt es Frank Schneider. „Ich bin Teil von Erfahrungen, die Menschen vor 200 Jahren aufgeschrieben haben und die ich durch deren Kopf erlebe. Das ist eine unglaubliche Bereicherung – vor allem, weil wir alle in ein einziges Leben eingesperrt sind.“
Und so träumen sie. Und fliegen. Schlafen, träumen und fliegen. Wie Fräulein Else. Naja, nicht ganz. Doch das ist ein zu weites Feld.