Die Virtuelle Welt stößt ins Wohnzimmer vor
Berlin (dpa/tmn) - Jahrzehnte richtete man Sitzmöbel in Wohnzimmern auf das Zentrum aus: den Fernseher. Spätestens mit dem Streaming kam die Konkurrenz. Das ließ sich noch gut integrieren. Bald muss der Fernseher allerdings mit der virtuellen Realität der VR-Brille konkurrieren.
Droht ihm nun das Aus?
Die Erde bebt, am Horizont steigt Rauch auf, Polizeisirenen heulen, und Explosionsgeräusche hallen durch die Straßenschluchten. Hektisch geht der Blick nach rechts, da war doch eine Bewegung? Als ob das urbane Chaos nicht genug wäre, stampft plötzlich Godzilla um die Ecke, der riesige Schädel der Echse mit messerscharfen Zähnen saust in Sekundenbruchteilen heran. Hier endet der Film, die beiden kleinen Bildschirme vor dem Augen werden dunkel.
Monster- und Katastrophenfilme im Kino oder auf dem TV kennt man zur Genüge. Doch das Demonstrationsvideo für die Virtual-Reality-Brille (VR) Oculus Rift zeigt, wie sich Filme weiterentwickeln könnten: Bald wird der Zuschauer per VR-Brille mittendrin sein, statt nur dabei. Statt begrenzter Leinwand gibt es ein 360-Grad-Blickfeld, auch über und unter dem Zuschauer geht es zur Sache.
Im vergangenen Jahr gab es auf der Elektronikmesse IFA(Besuchertage: 4. bis 9. September) unter anderem mit Samsungs Gear VR erste lauffähige Modelle zu sehen. Dieses Jahr bringen immer mehr Hersteller eigene VR-Brillen und die zur Erstellung von 360-Grad-Videos nötigen Mehrlinsenkameras auf den Markt. Zuletzt kündigte Nokia mit der Ozo ein Modell mit acht Kameras für Rundumaufnahmen an. Lösen kleine VR-Brillen mit Sensoren bald das TV ab?
„Ich würde behaupten, den Fernseher als solches wird es auch weiterhin geben“, sagt Timm Lutter von IT-Verband Bitkom. Allein schon aus Gründen der Geselligkeit. Mit VR-Brille werde man wohl eher nicht nebeneinander auf der Couch sitzen.
Das Interesse an der neuen Technologie sei allerdings groß, wie Umfragen des Verbands ergeben haben. Jeder Fünfte kann sich vorstellen, VR für Computerspiele oder 360-Grad-Videos zu nutzen. Abseits vom Gaming sieht Lutter vor allem für in VR gefilmte Sportveranstaltungen oder Live-Konzerte Potenzial.
Weitere Anwendungsgebiete sind virtuelle Besichtigungen von Immobilen, Lichtsimulationen oder virtuelle Einrichtungshilfen für Wohnungen. Und auch das Kino dürfte vor großen Veränderungen stehen. „VR hat das Zeug, die Filmbrache grundlegend zu verändern“, sagt Lutter. Dadurch, dass die VR-Brille den Zuschauer in den Mittelpunkt stellt, werden sich künftig ganz neue Wege ergeben, Geschichten zu erzählen und Ereignisse erlebbar zu machen.
Brian Blau vom IT-Analysten Gartner rechnet noch für 2016 mit ersten VR-Kinofilmen und erwartet für den Zuschauer mehr Interaktivität und ganz neue Filmerfahrungen. Da theoretisch der komplette Raum um den Zuschauer Spielfläche für den Film sein kann, könnten zwei Menschen den gleichen Film sehen - und trotzdem die Handlung aus völlig verschiedenen Perspektiven erleben. Blau erwartet „fundamentale Veränderungen“ in der TV- und Filmproduktion: „Die ersten sichtbaren Veränderungen werden Live-Events und Sportveranstaltungen sein.“
Aber was bedeutet das auf lange Sicht für den Fernseher? Roland Stehle von der Gesellschaft für Unterhaltungselektronik (gfu) sieht die große Zeit von VR im Wohnzimmer noch nicht ganz gekommen. „Dieses Jahr werden wir auf der IFA vor allem im Bereich Ultra HD etwas sehen“, sagt er. Erst wenn sich das ultrahochauflösende Fernsehen durchgesetzt hat, gibt es seiner Ansicht nach Potenzial für VR-Anwendungen im größeren Umfang.
Wer jetzt schon in virtuelle Welten eintauchen will, hat die besten Chancen mit dem Smartphone. Haltevorrichtungen wie Googles Cardboard, die Zeiss VR One oder Samsungs Gear VR machen virtuelle Realität, immersive Spiele oder 360-Grad-Video in Verbindung mit einem eingeschobenen Smartphone erlebbar. „Wir sehen gerade in diesem Spektrum viel Begeisterung für VR-Inhalte“, berichtet Analyst Blau. Auch Youtube unterstützt schon 360-Grad-Videos, Künstler wie etwa DJ Robin Schulz bringen 360-Grad-Musikvideos per App aufs Smartphone.
Bis die Technologie aus der Nische hervorkommt und zum Alltag gehören wird, dürfte aber noch einige Zeit vergehen. Rund fünf Jahre wird es noch dauern, schätzt Roland Stehle von der gfu. Analyst Blau rechnet mit fünf bis zehn Jahren - nicht zuletzt wegen der langen Nutzungszeiträume von TVs und den nötigen Investitionen für ein neues Gerät.
„Der Fernseher wird noch länger bleiben“, sagt Blau. „Er wird aber nach und nach an Bedeutung verlieren.“ Künftig, so der Marktexperte, werden immer mehr verschiedene Arten von Displays um die Aufmerksamkeit der Konsumenten werben. Und in 20 Jahren werde der heutige Fernseher ähnlich betrachtet, wie Besitzer eines modernen Smartphones auf ein Mobiltelefon aus den 90er-Jahren schauen.