Neue Protestkultur: Human Mic und MedMob
Berlin/Frankfurt (dpa) - Twitter funktioniert auch in der realen Welt: Ein Aufruf mit 140 Zeichen übers Internet, und die Protest-Camper vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt bekommen Tee, Suppe und einen WLAN-Router.
„Die Versorgung im Camp läuft super“, sagt Colin Below. „Es gibt viele Leute in der Umgebung, die arbeiten müssen, aber uns unterstützen wollen. Das ist Follower-Power.“ Follower, das sind Twitter-Nutzer, die Beiträge von anderen regelmäßig verfolgen. Die Aufrufe zur Unterstützung tauchen unter dem „Hashtag“ (Schlagwort) #OccupyFrankfurt auf. Zusammen mit Facebook hat der Internet-Dienst Twitter eine wichtige Bedeutung für die Protestbewegung, die sich seit dem 17. September zunächst an der Wall Street in New York und seit einer Woche auch in Deutschland gegen den Einfluss der Finanzwelt auf Politik und Gesellschaft richtet.
Twitter dient auch als Brücke für die Versammlungen im realen Raum - die innerhalb der Bannmeile vor dem Bundestag und ohne Anmeldung gar nicht Versammlungen sein dürfen. „Wir sind nur eine zufällige Anzahl von Individuen, die ohne Hierarchie kommunizieren“, sagt einer während der „Asamblea“ (spanisch: Versammlung) auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude. Seine Worte werden von anderen in kurzen Wortgruppen im Chor wiederholt: Das „Human Microphone“ (Menschenmikrofon), kurz „Human Mic“ genannt, trägt jeden Redebeitrag bis zum Rand der Versammlung.
„Das ist nicht nur ein technischer Ersatz fürs Megafon, sondern eine Kommunikationstechnik, die dabei hilft, sich anders auszudrücken und anders zuzuhören“, erklärt einer der Teilnehmer, der 40-jährige Software-Entwickler Florian Raffel. Wenn alle drei, vier oder fünf Wörter eine Pause für das Human Mic eingelegt werde, könne man die Gedanken kürzer und prägnanter formulieren. „So entsteht eine neue Gesprächskultur und wir sind unabhängig von Technik“, fügt ein weiterer Teilnehmer hinzu, der 34-jährige Schauspieler und Regisseur Johannes Ponader.
Das Sprechen in Wortblöcken kennt auch die Rap-Kultur. Mehrere prominente Hiphop-Künstler wie Mos Def, Kanye West und Talib Kweli besuchten die Wall-Street-Besetzer im Liberty Park und bezogen mit ihren Aussagen politisch Stellung. In einem Freestyle Rap rief Talib Kweli: „Die Konzernbosse und die Führer des Status Quo haben eine tief verankerte Angst vor Veränderung.“ Auch unbekannte Hiphop-Aktivisten reden sich engagiert den Frust von der Seele - und nutzen dabei den menschlichen Verstärker, um ihre Botschaft durch den Park zu bringen.
„Wiederholen heißt nicht zustimmen“, betont Ponader. Das Human Mic hat vor dem Reichstag auch die Stimme eines Polizisten verstärkt, der die Demonstranten nach ihrem nicht existierenden Versammlungsleiter fragte. Und ein Radioreporter sprach ins Human Mic, um die Asamblea als Gruppe zu befragen - denn diese lehnt es ab, einzelne Sprecher zu benennen. Die Teilnehmer reagieren mit Handzeichen auf jeden Redebeitrag - wenn man die Hände hochhält und bewegt, bedeutet das Zustimmung. Auf diese Weise wird der Redner nicht durch Klatschen unterbrochen. Ebenso gibt es Zeichen für Ablehnung und andere Reaktionen.
Die Diskussionen auf der Wiese und im Internet sind eng miteinander verknüpft. Ein Livestream überträgt die Asamblea ins Netz. In Frankfurt wie in Berlin werden die wichtigsten Inhalte der Diskussionen auf Webseiten festgehalten.
„Die Sozialen Netze spielen eine sehr große Rolle für uns, damit erreichen wir viele Menschen“, sagt der Frankfurter Colin Below, der sich als Web-Entwickler auch um das Wiki von OccupyFrankfurt kümmert. Facebook und Twitter stünden hier im Mittelpunkt. Für Planung und Organisation seien Wiki und Pad wichtig: Hier können mehrere gleichzeitig an Dokumenten arbeiten. „Da wird dann solange umformuliert, bis ein Konsens entsteht“, erklärt der 22-Jährige. Für das Chatten in Echtzeit treffen sich die Zentralbank-Camper und ihre Unterstützer auch in einem eigenen IRC-Kanal, also auf einem mit dieser Technik eingerichteten Internet-Server.
Die Occupy-Bewegung ist global. Neben dem New Yorker Vorbild Occupy Wall Street (OWS) kommen viele Anstöße aus Spanien, wo die „Indignados“, die Empörten, schon seit Mai auf die Straße gehen und sich unter anderem auf der Plattform „Echte Demokratie Jetzt“ organisieren.
Der Protest hat sich im Social Web fest etabliert, wie eine Twitter-Auswertung von Meltwater Buzz ergab. Höhepunkt war in Deutschland bisher der 15. Oktober, als 5250 Tweets mit den einschlägigen Hashtags gezählt wurden. In Spanien waren es an diesem Tag über 17 000, in den USA am 14. Oktober über 160 000 - darunter auch Tweets von Prominenten wie die Hollywood-Stars Alec Baldwin und Roseanne Barr.
Nach dem Aktionstag am 15. Oktober ist es in Deutschland schnell wieder still geworden um die Protestbewegung. Die „Occupier“ wollen versuchen, am Wochenende erneut Tausende auf die Straße zu bringen. Zugleich aber wollen sie mit dem geforderten Wandel auch bei sich selbst anfangen. So ist in Berlin wie zuletzt auch schon in Hamburg ein „MedMob“, eine gemeinsame Meditation geplant. „Es geht ums Mensch-Sein, um einen friedlichen Zusammenschluss und auch darum, bei sich selbst mit der Veränderung anzufangen“, sagt der 35-jährige Heilpraktiker Roman Asriel. „Meditation kann auf jeden Fall etwas verändern und öffnet uns für neue Ideen.“