Widerstand lernen 50 Jahre „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz
Hamburg/London (dpa) - Nachkriegsromane verblassen oft mit den Jahren und geraten in Vergessenheit. Anders die „Deutschstunde“. Der größte literarische Erfolg von Siegfried Lenz (1926-2014) erschien vor 50 Jahren - Anlass für den Hamburger Verlag Hoffmann und Campe, eine besonders gestaltete Jubiläumsausgabe herauszugeben.
Erstverkaufstag ist Dienstag (14. August). Und Erfolgsregisseur Christian Schwochow („Bad Banks“), derzeit in London, hat eine Neuverfilmung gedreht. Sie wird 2019 ins Kino kommen und später im ZDF gezeigt.
„Ich glaube dass der Roman seine Wirkkraft mit historischer Distanz noch verstärkt, weil uns ja kaum was übrig bleibt, als uns über Erzählungen, Geschichten, über Romane auch mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen“, sagt Günter Berg. Er hat Lenz sehr gut gekannt, war Verleger bei Hoffmann und Campe und hat den Kommentarband zur Werkausgabe der „Deutschstunde“ verfasst.
„Wenn es immer schwieriger wird, jungen Leuten die Zwänge und die Situation der Vorkriegs- und Kriegszeit zu erklären, dann ist die "Deutschstunde" nach wie vor als ein Pflichterfüllungsroman sozusagen immer noch fast unschlagbar“, sagt Berg, der auch Vorstand der Siegfried Lenz Stiftung ist.
Rückblende: Es ist das Jahr 1968, die Studentenproteste sind auf dem Höhepunkt. Autoritäten werden infrage gestellt. Die junge Generation prangert das lange Schweigen der Väter über die NS-Zeit an und fordert endlich eine Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte. In diesem gesellschaftlichen Umfeld erscheint Lenz' „Deutschstunde“.
Es ist die Geschichte des jungen Siggi Jepsen, der in einer Jugendstrafanstalt einen Aufsatz „Über die Freuden der Pflicht“ schreiben soll. Und da er so viel zu erzählen hat, gibt er zunächst ein leeres Blatt ab. In einer Arrestzelle schreibt er sich dann die Seele frei: Über seinen in der NS-Zeit verblendeten Vater, der als Dorfpolizist an der deutsch-dänischen Grenze ein Malverbot gegen einen befreundeten Künstler durchsetzen will - und dabei noch auf das Denunzieren des Sohnes hofft, der bei dem Maler wie zu Hause ist.
Lenz hält mit seinem Roman der deutschen Gesellschaft den Spiegel vor. Es geht um Vergangenheitsbewältigung, aber auch um einen Vater-Sohn-Konflikt, zudem um das Verhältnis von Kunst und Macht. Und Lenz versetzt die Handlung in eine norddeutsche Landschaft, die er sprachlich so faszinierend wie symbolträchtig beschreibt.
Der Roman ist auf Anhieb ein Bestseller, hält sich monatelang in den Bestenlisten. Inzwischen sind nach Verlagsangaben mehr als 2,2 Millionen Exemplare verkauft, der Roman ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Drei Jahre nach Erscheinen verfilmt der renommierte Regisseur Peter Beauvais den Roman als TV-Zweiteiler für die ARD.
Jetzt ist Schwochow (39) - er hat zufällig am Erscheinungstag der „Deutschstunde“ am 23. September selber Geburtstag - das Wagnis einer Neuverfilmung eingegangen. Schon lange hatte er die Idee: „Ich war gerade am Ende meiner Zeit an der Filmhochschule und habe gedacht: Das wäre ein Stoff, der mich für eine Verfilmung interessieren würde.“ Schwochow schwebte ein Film vor über den Zweiten Weltkrieg und die Frage nach falsch verstandener Pflichterfüllung, „die wie ein Gift unter das deutsche Volk gebracht wurde. Ein Film mit ganz außergewöhnlichen Figuren, Situationen und Bildern über die Schrecken des Krieges ohne Kriegsbilder, wie wir sie üblicherweise kennen.
Es sollte noch Jahre dauern, bis sich die Chance zur Neuverfilmung tatsächlich ergab. „Wir haben die Erzählung von Lenz sehr ernst genommen“, sagt Schwochow. „Die Geschichte von Siggi, der zwischen zwei Vaterfiguren steht, die wie Kriegsparteien aufeinander losgehen und ihn in eine moralisch unlösbare Situation bringen, und das Kind entscheidet, lernt Widerstand zu leisten.“
„Das ist das, was mich interessiert in einer Zeit, in der Widerstand fehlt in Anbetracht der politischen Situation in Deutschland, in Europa, überall in der Welt“, sagt Schwochow. Er spricht von einer „rechten Revolution, die längst politischer Mainstream ist. Wir sind in einer Art Koma gefangen, es passiert ganz wenig Gegenwehr. Und deswegen hat mich diese Geschichte umso mehr interessiert, eines Jungen, der in den Widerstand geht“, sagt Schwochow.
„Wir sind der Vorlage sehr treu geblieben, aber wir versuchen, den Roman aus einer heutigen Sicht zu interpretieren. „Der Siggi von Lenz ist doch ein viel milderer Siggi als bei mir im Film, jemand, der eine andere Verletzung durch diesen Krieg mitbekommt - Siggi ist für mich eine Figur jener kriegsversehrter Kinder und Jugendlicher, der die Generation der späteren RAF-Terroristen vorwegnimmt.“
Berg und Schwochow hielten es für angemessen, wenn die „Deutschstunde“ in den Schulen wieder öfter gelesen würde - auch wenn dort Bücher mit mehreren hundert Seiten kaum mehr Chancen hätten. Den Umweg, erst den Film zu sehen und dann zur Lektüre zu greifen, fände Schwochow „großartig“. „Denn das ist ein umwerfendes, ein großes Buch, die Geschichte hat eine Bildgewaltigkeit, die finde ich einzigartig.“ Berg betont: „Für das Verständnis der Deutschen auch gegenüber der Naziherrschaft ist die "Deutschstunde" neben der "Blechtrommel" von Grass der wichtigste Roman der Nachkriegszeit gewesen.“
Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki verzichtete 1968 wegen der engen Freundschaft zu Lenz auf eine Rezension, führte dafür aber ein provozierendes Interview. Tenor: Das Buch könne womöglich Zugeständnisse an den Geschmack der breiten Masse machen. Lenz antwortete geduldig, doch sein letzter Satz an Reich-Ranicki wurde nicht gedruckt: „Sollte Ihre Frage schließlich darauf hinauslaufen, mich selbst einen spezifischen Makel für mein Buch finden zu lassen, nun, es hat den Makel der Lesbarkeit.“
Siegfried Lenz: Deutschstunde - Jubiläumsausgabe, Verlag Hoffmann und Campe (Hamburg), 592 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-455-00449-6