Bodo Kirchhoffs neuer Roman: Der Geschichtenerzähler schaut zurück
Bodo Kirchhoff hat kurz vor seinem 70. Geburtstag einen großen Roman über seine Jugend vorgelegt. Das Buch eröffnet einen neuen Blick auf ein Schriftstellerleben.
Frankfurt. Hunger auf dann doch tristen Sex und die ewige Sehnsucht nach Liebe: Wie wenige andere unter Deutschlands Autoren hat sich Bodo Kirchhoff an großen Obsessionen und Emotionen abgearbeitet. Als er vor fast 40 Jahren im Stil von Michel Houellebecq seinen Debütroman über einen Schriftsteller vorlegte, der Frauen wahllos als sexuelle „Kontaktpersonen“ benutzt, hatte er seinen Ruf weg.
Der „späte“ Kirchhoff wird dann von der Kritik für seine dramatischen — und komplizierten — Liebesgeschichten gerühmt. Jetzt hat der Schriftsteller wenige Tage vor seinem morgigen 70. Geburtstag einen autobiografischen Roman über seine Jugendjahre veröffentlicht, der zugleich einen Schlüssel für das gesamte Werk Kirchhoffs liefert.
Es ist eine Erzählung über das sexuelle Erwachen eines Jungen, den die Eltern bei ihrer Scheidung im Jahr 1959 ins Internat nach Gaienhofen am Bodensee abschieben. Dort findet der Elfjährige den Weg zur Musik — und wird von einem jungen Rothhändle-rauchenden und Cabrio-fahrenden Kantor, der ihn vom Äußeren an Winnetou erinnert, sexuell missbraucht. Und fühlt sich zugleich zu ihm hingezogen.
In „Dämmer und Aufruhr“ schildert er diese Jahre ohne jede Anklage und Verbitterung. Es geht ihm vielmehr darum, sich mit seinem Werdegang auseinanderzusetzen. „In der Sexualität steckt immer ein Verhängnis drin“, sagt Kirchhoff in einem Interview. Das Wort „Missbrauch“ mag er nicht, weil es den Widersprüchen des individuellen Dramas nicht gerecht werde.
Auch seine im Buch durchaus liebevoll beschriebene Mutter hat ihren Anteil am „Verhängnis“. Sie nimmt den Vierjährigen im Tiroler Urlaubsidyll mit ins Bett und macht ihn zu ihrem „Sommergalan“. Dass dessen Leben in der Frankfurter Studentenzeit der 1970er Jahre durch Exzesse jeglicher Art beinahe entgleist, ist für Kirchhoff nicht verwunderlich. „Jedes Schriftstellerleben bewegt sich auf einer schiefen Bahn“, sagt Kirchhoff und verweist etwa auch auf Thomas Mann oder Marguerite Duras.
Ohne die belastenden Erlebnisse der Jugendjahre wäre er aber nie Autor geworden. Die Arbeit wurde für Kirchhoff zu einer Form der Therapie. „Schreiben ist ein nachgeholter Menschwerdungs-Prozess“, sagt er. Erst als Autor habe er Empathie gelernt — also das menschliche Einfühlungsvermögen. „Ich bin ein stückweit ohne das aufgewachsen.“ Mit Beziehungen zu anderen hat er sich, wie er einräumt, zeitlebens immer schwer getan.
Der neue Roman, von dem er insgesamt acht Fassungen schrieb, war für Kirchhoff „Kraftanstrengung“ und „Akt der Reinigung“ zugleich. Er ist literarisch ein großer Wurf geworden, weil Kirchhoff darin sprachlich sehr dicht den Zeitgeist der Nachkriegsrepublik einfängt. Mit all den Versehrtheiten, Verklemmungen und dem individuellen „Aufruhr“, der in der Rebellion der 68er-Generation gipfelte.
Kirchhoff, 1948 in Hamburg als Sohn einer Schauspielerin und eines Geschäftsmannes geboren, ist ein Workaholic. Mit sprachlicher Eleganz hat er große Wälzer vorgelegt — von seinem Durchbruch mit dem Bestseller „Infanta“ (1990) bis zu „Die Liebe in groben Zügen“ (2012). Für seinen ungewohnt schmalen Band „Widerfahrnis“ hat Kirchhoff 2016 den Deutschen Buchpreis erhalten.
Mit seiner Frau Ulrike Bauer, mit der er zwei erwachsene Kinder hat, gibt der promovierte Kirchhoff seit vielen Jahren im Sommer Schreibkurse im gemeinsamen Haus am Gardasee. Den Rest des Jahres lebt das Paar in Frankfurt — in getrennten Wohnungen.
Kirchhoffs Mutter Evelyn Peters-Joost hatte sich nach dem Ende der Bühnenschauspielerei als Texterin in Frankfurt verdingt — und schrieb in den 1960er Jahren ziemlich erfolgreiche Unterhaltungsromane. Sohn Bodo begann mit den auch für seine Mutter heiklen autobiografischen Erinnerungen erst nach deren Tod vor vier Jahren. „Ich habe (im Buch) versucht, ihr gerecht zu werden.“