Ausstellung Albert Vigoleis Thelen: Ferienreisende und Flüchtlinge auf Mallorca

Pünktlich zur Urlaubszeit erinnert in seiner Heimatstadt Viersen eine Ausstellung an den Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen (1903-1989). In seinem Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ schilderte Thelen, wie es in den 1930er Jahren war, als Flüchtling auf einer Insel festzusitzen, auf der die Verfolger Ferien machen.

Foto: Jürgen Pütz

Viersen/Palma. Vier Flüchtlingsboote in fünf Tagen, eines davon in unmittelbarer Nähe von Es Trenc, dem Traumstrand der Schönen und Reichen — das ist die Juli-Bilanz, wie sie das deutsche „Mallorca-Magazin“ berichtet. Zwölf Boote mit Flüchtlingen haben die Balearen-Insel in diesem Jahr bisher erreicht. Das ist praktisch nichts im Vergleich zu den mehr als 70 000 Menschen, die 2017 schon bis Juni über das Mittelmeer allein nach Italien kamen. Aber für Mallorca ist es das Doppelte der beiden Vorjahre zusammen.

Foto: Thelen-Archiv Pütz

Bleiben dürfen die Flüchtlinge nicht. Als illegale Migranten verfrachten die spanischen Behörden sie in „Ausreisezentren“ auf dem Festland. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Flüchtende und Feriengäste irgendwo auf der Insel zusammentreffen wie zu Zeiten von Albert Vigoleis Thelen, für den Mallorca in den 1930er Jahren von der erhofften Zuflucht zur Falle wurde.

1931 war der Viersener „Erzweltschmerzler und Sprachschwelger“ (Jürgen Pütz) in der Hoffnung auf eine literarische Existenz mehr zufällig auf Mallorca gelandet, wo schlichte Mittellosigkeit den Aufenthalt Thelens und seiner Frau Beatrice auf fünf Jahre ausdehnte. Über diese Jahre, die 1936 mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs in lebensbedrohliche Verfolgung, abenteuerliche Flucht vor spanischen Faschisten und deutschen Nazis und ein fast lebenslanges Exil münden, hat Thelen mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten 1953 den „merkwürdigen, bunten und krausen“ (Thomas Mann) 1000-Seiten-Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ geschrieben.

Als Strandlektüre ist der Roman nur mäßig geeignet. Thelen und sein Alter Ego „Vigoleis“ — den Namen hat er einem mittelalterlichen Ritter-Epos entliehen — springen thematisch von einem Hölzchen aufs nächste Stöckchen. Prächtig taugt der fast vergessene Meilenstein der deutschen Literatur aber als intellektuelles Look-at-me-Asseccoire auf den schicken Kaffeehaustischen des Cappuccino Grand Café im Palau March, wo der zu Höherem berufene Reisende seine kulturelle Überbelichtung herrlich in Szene setzen kann. Und damit ist man schon mitten in der Vigoleisiade.

Denn Thelen und seine Herzensdame sind aufgrund eines Hilferufs von Beatrices Bruder nach Mallorca gekommen, was sie ihre Ersparnisse kostet und in Armut stürzt. „Die Sache ist nämlich die“, schreibt Vigoleis 1931 in einem Brief nach Amsterdam: „Wir sind hier unten in ein richtiges Hurenabenteuer hineingeraten. Don Pedros Frau, eine waschechte Vettel, die er sich aus einem hiesigen Bordell aufgeladen hat, hat unsere ganzen Perspektiven zerstört.“ So sind Beatrice und er gezwungen, sich in wirtschaftlicher Randexistenz mit Übersetzungen, Rezensionen, Sprachunterricht und Hilfsarbeiten durchzuschlagen.

Dabei kreuzen sich ihre Biografien mit denen einiger Berühmtheiten der Zeit. Beatrice arbeitet zeitweise für den britischen Schriftsteller Robert Ranke-Graves („Ich, Claudius, Kaiser und Gott“), Vigoleis darf sich etwas hochtrabend als Sekretär des berühmten Harry Graf Kessler bezeichnen (dessen Lebenserinnungen er auf einer Reiseschreibmaschine abtippt). Das liest sich im Insel-Roman alles weit romantischer als in den gerade mal 14 erhaltenen Briefen Thelens aus den Mallorca-Jahren. Dort heißt es unumwunden: „Aber wenn man drei Tage wie ein Halbidiot durch die Stadt gelaufen ist in der brennenden Sonne und sozusagen nichts im Magen hat, dann gehen alle Ambitionen zum Teufel.“

Fern der Heimat sieht Thelen keinen Grund, sich den von ihm innig verachteten Nazis anzubiedern. „Wir, Schützlinge eines Verrückten, eines Többentyps?“, heißt es gegen Ende des Romans in einer Auseinandersetzung mit dem deutschen Konsul. Und: „Die Heimreise, meinte ich, träten wir nicht an; erst wenn die ganze Nazibande mitsamt dem Führer zum Teufel gegangen sei, ginge ich wieder an die Niers; jetzt wollten wir in die Schweiz.“ Zwischenzeitlich plant Thelen offenbar auch ein Buch, das mit den Nazi-Bonzen in der verworfenen niederrheinischen Heimat abrechnen soll. Titel: „Hünengräber ohne Hünen.“ Als er 1953 bei seinem künftigen deutschen Verleger in Düsseldorf Bedenken gegen die „Insel“ wittert, schreibt er aus Amsterdam an Peter Diederichs: „Wir wissen ja hier auch gar nicht, was in Deutschland geschieht. Ist der Nationalismus wieder so im Anwachsen, dass man Angst hat, ein Buch zu bringen, in welchem ,unvölkische’ Dinge gesagt werden?“

Rund 3000 Deutsche leben zu Beginn der 30er Jahre auf Mallorca, darunter auch politische Flüchtlinge. Aber es gibt auch eine Ortsgruppe der NSDAP, und der deutsche Konsul Johannes Dede versucht die Auslandsdeutschen auf den Kurs des „Führers“ zu bringen; auf Schiffen außerhalb der spanischen Gewässer nehmen sie sogar an Wahlen teil. Oppositionelle wie Thelen werden bespitzelt. Was jetzt an deutschen Touristen auf die Insel kommt, schreit aus Thelens Sicht regelrecht danach, von ihm veräppelt zu werden.

Als Fremdenführer führt Vigoleis die Urlauber an der Nase herum Und so wird Vigoleis zum „Führer“. Das Wort, schreibt er im Roman, „rief etwas Lächerliches auf, man sah die Wichsbürste des Schnauzes und die Haarlocke eines Homosexuellen, den Blick eines Irrsinnigen, und das alles in Uniform, um die Komik zu erhöhen und ins Tragisch-Deutsche zu heben.“ Und als Fremdenführer führt Vigoleis die deutschen Kraft-durch-Freude-Urlauber genussvoll an der Nase herum und erfindet schließlich im Übermut die „mystisch gebogenen Säulen“ der Kathedrale von Palma (siehe Textauszug). Der Flüchtling in der Falle als Führer der strammdeutschen Ferien-Reisenden — der Thelensche Humor mag bisweilen mitleidlos sein, aber er ist unbestechlich.

Als die Faschisten auf Mallorca die Macht übernehmen, entkommen Vigoleis und Beatrice mit knapper Not auf einem britischen Zerstörer. 50 weitere Jahre währt ihr Exil in der Schweiz, Portugal und den Niederlanden. „Seitdem der Mensch aus dem Paradiese hinüberwechseln musste in das Naturreservat seiner Kultur“, heißt es im letzten Absatz, der auf dem ausfahrenden Schiff spielt, „wo er sich halten kann, solange er den Instinkt für den Grenzstrich nicht einbüßt, über den hinaus er abgeknallt wird, ist die Geschichte seiner Freiheit eine Geschichte ohne Pointe.“

„Die Insel des zweiten Gesichts“ gilt heute als eines der unbekanntesten, aber wichtigsten Bücher der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts.