Buchpreis hat Frank Witzels Leben umgekrempelt

Offenbach (dpa) - Seine Auftritte sind oft schon Wochen vorher ausverkauft. Mehr als 100 Lesungen hat Frank Witzel seit dem Gewinn des Deutschen Buchpreises im Oktober gehabt.

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„wIE Und immer noch kommt dem Autor, der vor seinem Erfolg 40 Absagen von Verlagen kassierte, alles „wie ein Rausch“ vor. Erst vier Monate nach der Frankfurter Buchmesse findet der 60-Jährige, der in einer kleinen Mansardenwohnung in Offenbach wohnt, wieder etwas mehr zur Ruhe.

Es war eine Sensation, als die Kritiker-Jury am Vorabend der Messe dem 60-Jährigen den Preis zuerkannte. Auf den kiloschweren Wälzer mit dem seltsamen Titel „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ hatte trotz manch überschwänglicher Rezension niemand gewettet. Das 800-Seiten-Buch galt als experimentell und einem breiten Lesepublikum schwer vermittelbar.

Doch die Skeptiker lagen falsch: Der Roman über einen Teenager, der in der hessischen Provinz in den Zeiten der RAF-Aktivitäten aufwächst, stand einige Woche lang auf den Bestsellerlisten. Der Berliner Verlag Matthes und Seitz, der sich für Witzels Roman letztlich erwärmt hat, hat bisher 70 000 Exemplaren verkauft. „Wir sind sehr zufrieden“, sagt eine Sprecherin. Einige Lizenzen wurden ins Ausland verkauft - auch nach China.

Zufrieden ist auch Witzel, der sich jahrelang als Autor mit Gitarrenunterricht über Wasser gehalten hat. „Mein Leben hat sich radikal verändert“, sagt der Autor. Ihm macht es Spaß, sein Buch in ganz Deutschland persönlich vorzustellen. Allerdings tut sich der Osten mit seinem Roman noch schwer. Dort liest er nur selten - zu sehr scheint es doch eine bundesrepublikanische Geschichte zu sein.

Im stark autobiografisch geprägten Roman schildert der 1955 geborene Witzel, wie in dem Wiesbadener Vorort Biebrich ein knapp 14-Jähriger den gesellschaftlichen Umbruch im Jahr 1969 erlebt. Der Muff in Familie, Schule und katholischer Kirche lässt sich aber in der Provinz nur schwer abschütteln.

Die Fantasien des Pubertierenden - er gibt seiner Jugendgang den Namen RAF noch vor deren Gründung im Jahr 1970 - vermischen sich mit der Realität. Witzel verrührt unterschiedliche Zeitebenen mit verschiedensten literarischen Genres zu einem einzigartigen Mix. Das ist keine einfache Lektüre, da die lineare Erzählstruktur fehlt. Dafür können viele der 99 Kapitel aber auch für sich gelesen werden.

Ganz wichtig im Roman ist die Popmusik, die für den Protagonisten wie für viele der damaligen Generation zum Rettungsanker wurde. Witzel so etwas wie den literarischen Sound kreiert. Zu den köstlichsten Stellen des Romans gehört, wie ein angehender Ordensmann dem Teenager im katholischen Heim erläutert, wie die Titel des Beatles-Albums „Rubber Soul“ auf das Leben von Jesus umgemünzt werden können.

Die legendäre LP bleibt für Witzel ein Meilenstein. Er ist selbst auch Musiker, hat klassische Gitarre und Klavier studiert. Danach Soziologie in Frankfurt. „Alles ohne Abschluss“, sagt er trocken und sehr bescheiden.

Aber Witzel hat einen großen Anspruch: Bei allem Sinn fürs Absonderliche ist er ein hochintellektueller Autor, der die Welt erklären will. Erstaunt und zugleich erfreut ist er, dass auch die Nachgeborenen mit seinem Buch etwas anfangen können. Zu den Lesungen kommen viele Jüngere. Offensichtlich bietet es ihnen nach Witzels Einschätzung einen Schlüssel zum Verständnis der bleiernen Nachkriegszeit, die ihre NS-Vergangenheit nicht wahrhaben wollte und sich im Umgang mit den Feinden von der RAF schwer tat.

Seine für manisch-depressiv erklärte Hauptfigur landet im Buch schließlich im Sanatorium. „Es war eine Zeit, in der vieles pathologisiert und ausgegrenzt wurde“, sagt Witzel. Auch er musste im Elternhaus für jeden Zentimeter Haar kämpfen, der übers Ohr ging. Bis zum Alter von fast 30 Jahren trug er seine Pracht schulterlang, bis die ersten lichten Stellen nicht mehr zu kaschieren waren.

Für den vielfältigen Witzel ist der Buchpreis zum Glücksfall geworden. Für den Sender Bayern2 produziert er derzeit zum Buch ein Hörspiel, für das er auch die Musik auf dem Computer produziert - und fürs Programmheft hat er gleich noch Comics gezeichnet. Zur Leipziger Buchmesse Mitte März bringt er mit Co-Autor Philipp Felsch einen kleinen Band heraus, der unter dem Titel „BRD noir“ den Umgang mit den düsteren Kriminalfällen der alten Bundesrepublik untersucht.

Mit seinem neuen Romanprojekt bleibt er dieser Zeit treu: Er will ein Buch über einen Mann schreiben, der Ende der 1960er Jahre begann, berühmte Kunstwerke zu zerstören. Seine Wohnung in Offenbach dient ihm zum Arbeiten als Rückzugsort - sofern es der Lärm der nach Frankfurt einfliegenden Flugzeuge zulässt, wie er meint. Witzel wohnt seit 25 Jahren in einem verwunschen wirkenden efeuumrankten Haus, das bisher jeder Gentrifizierung widerstanden hat.