Das jüngste Buch „Über Bord“ von Ingrid Noll schwächelt
Zürich. Wenn Ingrid Noll zu einer Kreuzfahrt bittet, kann man sicher sein, dass der eine oder andere Protagonist baden geht. Das verrät der Titel ihres neuen Romans „Über Bord“ — der auch schon klar macht, wohin für eine der Figuren die Reise geht.
Wie stets hat die 76-Jährige zwei Jahre an ihrem Buch gearbeitet, bevor sie eine neue Version einer weiblichen Rächerin in die Öffentlichkeit schickt.
Als erstes stellt die Autorin ihr Personal in einer Art Familienzusammenführung vor. Und dieses Patchwork-Netz hat es in sich. Da ist zunächst Großmutter Hildegard, bei der die Fäden zusammenlaufen. Mit ihr im Haus wohnen die geschiedene Tochter Ellen und die Enkelin Amalia. Ellen hat vier Geschwister; ein weiterer Halbbruder, ein uneheliches Kind des Vaters, taucht plötzlich aus der Versenkung auf.
Ellen, der einsamen Frau aus dem Einwohnermeldeamt, kommt der Leser am nächsten. Allerdings irritieren gelegentlich abrupte Perspektivwechsel und überrissene Gefühlsausbrüche. Der neue Bruder Gerd wird freundlich aufgenommen — obwohl seinetwegen noch ein weiteres Familiengeheimnis gelüftet wird.
Anscheinend aus Dankbarkeit lädt Gerd die ewig unter Geldnot leidenden Ellen und Amalia zur Kreuzfahrt ein. Mit Gerds Frau Ortrud bilden sie an Bord ein Quartett. Für Ellen und Amalia, deren Alltag meist ziemlich fad ist, eröffnet diese Reise völlig neue Perspektiven. Und zumindest eine von ihnen hat nach der Reise noch an den Folgen zu knabbern.
Was auf dem Luxusliner in zwei Wochen so alles passiert, welche teils skurrile Gesellschaft sie ertragen müssen und wie die beiden Frauen mit der neuen Verwandtschaft klarkommen, das erzählt Noll in vergnüglicher Weise. Allerdings fehlen die Raffinessen und die Hinterhältigkeit, die die Bestsellerautorin bei den Büchern „Die Apothekerin“ und „Der Hahn ist tot“ ausgezeichnet haben.
Das unvorhergesehene, aber garantiert gerechte Ableben eines Protagonisten wirkt bei ihr immer wie ein quasi alltäglicher Vorgang, den Noll so nüchtern schildert wie einen Frühjahrsputz. Doch gibt die Rache hier ausnahmsweise Rätsel auf. War das wirklich notwendig?
Vergnügen macht allerdings, wie die Autorin den Gedankengänge und Seelendramen ihrer Figuren auf den Grund geht. Wem also das feine Gemeine fehlt, kann sich immer noch an einer sommerlich leichten Lektüre erfreuen.
Ingrid Noll: „Über Bord“; Diogenes Verlag, 336 Seiten, 21,90 Euro.