Zum Schluss, nach langen dreieinviertel Stunden, steht ein ukrainisches Mädchen, die vor drei Jahren nach Deutschland kam, allein auf weiter Flur. Genauer: auf leerer Bühne im Düsseldorfer Schauspielhaus und will „die Welt umbauen“. Sekundiert von einem Jungen, der noch eine orangefarbene HJ-Uniform trägt.
Mit einem optimistischen Bild endet Nora Schlockers Inszenierung des Nachkriegs-Romans von Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“. Die Nazi-Zeit verbindet die Tiroler Regisseurin (2011-2014 Hausregisseurin am Schauspielhaus) dabei mit der komplexen Situation in der heutigen Ukraine, die sich durch Russlands Angriffskrieg 2022 drastisch veränderte und die junge Generation vor die Frage stellt: Lohnt sich Widerstand überhaupt? Was können wir tun, um unsere Werte zu verteidigen? So entscheiden sich Schlocker und Dramaturgin Birgit Lengers für ein Lehrstück, vorrangig für die Jugend - mit reichlich Gefühligkeit und Moralin, verabreicht in alt bekanntem Aufarbeitungs-Tonfall. Konsequent, aber auch ziemlich konventionell.
Schauspielerische
Meisterleistung
Fallada verfasste seinen umfangreichen Kolportage-Roman in Anlehnung an Gestapo-Akten. Darin - erschienen 1947, kurz nach Falladas plötzlichem Herz-Tod - geht es um das Schicksal von Otto und Anna Quangel: um eine Berliner Durchschnitts-Familie, die anfangs die Nazis gewählt und sich mit der Diktatur arrangiert hatte. Doch nachdem 1940 ihr Sohn „Ottochen“ beim Frankreich-Feldzug gefallen war und die NS-Wirklichkeit plötzlich in ihr Leben eingriff, mutierten die Quangels von Mitläufern zu Widerstandskämpfern. Sie riskieren ihr Leben, fliegen auf und werden von Kommissar und Nazi-Scharfrichter ‚gerichtet‘. Wie die anfangs unkritischen Geister mit ihren Aktionen ihre kleinbürgerliche Existenz aufs Spiel setzen und zu einer Art Barrikadenkämpfern werden, das beleuchten eindrucksvoll Florian Lange (Otto Quangel) und Cathleen Baumann (Anna). In einer schauspielerischen Meisterleistung.
Quangels‘ dokumentiertes ‚Verbrechen‘: Auf Postkarten klärten sie die Menschen über Ziele und Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auf und riefen Mitbürger zum Widerstand auf. Zunächst verstecken sie vereinzelt handgeschriebene Postkarten in Treppenhäusern. Doch plötzlich flattern Hunderte von Karten vom Himmel auf die Bühne und die vorderen Zuschauerreihen. Widerstand, der immer mutiger wird, doch mit enttäuschendem Ergebnis: Diejenigen, die sie finden haben keinen Mut, sondern überreichen sie den Machthabern. War alles umsonst?
Für ihr pädagogisches Lehrstück über den NS-Alltag setzen Schlocker und Lengers ein Jugend-Ensemble in BDM und HJ-Uniformen ein. Mädchen und Jungs rennen über die Bühne, verfolgen lautstark verdächtige Personen. Im Fall von Kuno Barkhausen (Maxim Kirsa-Straubel)) ist es sogar ein Sohn, der seinen Vater an die SS ausliefert. Ebenso begegnet uns Falladas vielschichtiges Roman-Personal – Figuren, die 1947 aufrüttelten, doch seit zig Jahren hinlänglich bekannt sind durch zahlreiche NS-Aufarbeitungs-Bücher, -Filme und -Dokumentationen.
Da ist die beherzte, wohlhabende jüdische Mitbürgerin Frau Rosenthal (Friederike Wagner), in deren Wohnung NS-Schergen alles dursuchen und in ihren Wäschekammern reichlich Beute machen. In eisigem, scharfem Tonfall schnauzen SS-Obergruppenführer (Claudius Steffens) und SS-Gruppenführer (Blanka Winkler) sogenannt verdächtige Personen an. Sie führen Willkür und Gewalt in einer Diktatur plastisch vor Augen. Dass derartige Systeme nicht nur Berserker-Methoden anwenden, sondern auch intelligent zuschlagen, demonstriert Jürgen Sarkiss als Kommissar Escherich. Als Gestapo-Mann täuscht er den Verständigen vor, sympathisiert scheinbar mit ,Verdächtigen‘, kennt aber kein Pardon.
Eine packende, geradezu virtuose Charakterstudie bietet Ingo Tomi (vor 14 Jahren im Schauspielhaus-Ensemble) als politisch angepasster Frauenheld Enno Kluge. Tomi spielt nach allen Regeln die Spielernatur aus, die nach Abenteuern immer wieder zu seiner Ex-Frau zurückkehrt, sie im Kopfstand bezirzt und anpumpt. Notorisch pleite, zu allen Kompromissen scheinbar bereit, ist jedoch auch er dem Untergang geweiht. Und wird von Kommissar Escherich beseitigt.
In dieser Szene hatte er in der herzlich gefeierten Premiere eine kleine Panne. Kurz unterbrochen wurde die Aufführung wegen eines anderen medizinischen Notfalls, der sich im Nachhinein als harmlos erwies.
Fazit: Konventionell inszeniertes Lehrstück über Widerstand in einer Diktatur. Mit quälend Längen, die eine starke Botschaft verwässern.