Richard Siegals Langzeit-Performance „Lunar Cycle“ im Museum Folkwang Den Klimakollaps tanzen

ESSEN · . Den US-amerikanischen Star-Choreografen Richard Siegal wird man in Köln nicht mehr zu sehen bekommen. Dort hat man ihm und seinem Ballet of Difference im vergangenen Jahr den Stuhl vor die Tür gestellt und seinen Vertrag nicht verlängert – aus undurchsichtigen Gründen.

Mit den Auswirkungen des Klimawandels setzt sich Richard Siegals Performance „Lunar Cycle“ auseinander.

Foto: NN/Thomas Schermer

Dabei hatte der innovative Künstler die Domstadt als vitalen Schauplatz des zeitgenössischen Tanzes endlich wieder ins Gespräch gebracht. In der kommenden Spielzeit übernimmt der 57-Jährige das Ballett Nürnberg. In NRW aber, genauer in Essen, hat Siegal die Gastprofessur „Zeitgenössischer Tanz“ an der Folkwang Universität der Künste übernommen, um mit den Tänzerinnen und Tänzern des Folkwang Tanzstudios und Studierenden des Masterstudiengangs Tanzkomposition die spektakuläre Langzeit-Performance „Lunar Cycle“ über den Klimawandel im Museum Folkwang zu erarbeiten.

Donnergrollen dringt von Ferne ans Ohr. Aber noch ist man damit beschäftigt, alte, graue Steine zu befühlen. Ihr jeweiliges Gewicht wird auf einer Tabelle in Relation gesetzt zu menschlichen Körperteilen, zugeordnet nach Körpergröße und -gewicht – wozu auch immer das gut sein soll. Wieder ertönt das archaische Trommeln wie der Zorn antiker Götter. Sie haben allen Grund zu toben: Es ist die menschengemachte Erderwärmung, die hier verhandelt wird. Nebenan nämlich, in der großen Ausstellungshalle, hat Siegal sein immersives Tanzprojekt inszeniert.

Musik, Nebelskulpturen, Tanz, Licht. Die Klangwelten entfalten sich in Live-Konzerten des Ensembles Musikfabrik sowie in einer Vierkanal-Soundinstallation des Elektronik-Pioniers Kurt „Pyrolator“ Dahlke. Die Choreografie basiert auf wissenschaftlichen Daten. Das ist nicht neu, nutzte doch schon Merce Cunningham, die Ikone des Postmodern Dance, seit den 1990ern das Computerprogramm LifeForms zum Choreografieren: Cunninghams legendäres Tanzstück „Ocean“ inspirierte Siegals Werk. Es sind Geodaten der Eisschmelze und eine Langzeitstudie über die Haltung der US-Bevölkerung zur Erderwärmung, die per Algorithmen in Tanz übersetzt werden.

Die sich fortlaufend entwickelnde Tanzinstallation erkundet die Auswirkungen des Klimawandels über den Zeitraum eines vierwöchigen Mondphasenzyklus’ – auch unter Einbeziehung kosmischer und irdischer Zyklen. Das klingt hochambitioniert. Draußen leuchtet der weiße Vollmond – es kann also losgehen.

Das Donnergrollen erzeugt Dirk Rothbrust an vier gewaltigen Bass Drums. Die Ausstellungshalle, 1200 Quadratmeter groß, ist zur Bühne geworden – für Künstler und Zuschauer. Letztere sind eingeladen, sich als Teil des „performativen Ökosystems“ zu verstehen. Das Licht wird gedimmt. Kleine Nebelmaschinen von der Größe einer Taschenlampe hängen von der Decke. Ab und an puffen sie Dampfwölkchen in die Luft – was für ein verschwörerisches Schmunzeln unter Zuschauerinnen und Zuschauern sorgt. Im hinteren Teil tanzt ein blondierter Performer in einem Kreis, der eingefasst ist von einem illuminierten weißen Ring. Eine Pose erinnert an den berühmten Nijinsky-Faun. Doch den lässt er schnell hinter sich und wirbelt in Siegals gedrechselter Feinmotorik umher. Eine Tänzerin auf Spitze gesellt sich hinzu, nutzt ebenfalls sämtliche Körperachsen, rotiert schwungvoll. Präzisionsarbeit. Hier, in der Verbindung von akademisch-klassischer Beinarbeit und dem Spiel mit Oberkörperwellen, finden sich Verweise auf die Legende Cunningham.

Im vorderen Teil der Bühne sorgt jetzt ein Trio für Bassklarinette, Trompete und Schlagzeug für eine düstere, bedrohliche Klangwelt. Es wird dunkel – eine Tänzerin fällt hinten über. Großartig, wie die Bläser ein Klirren, Knirschen und Knarzen erzeugen, als wäre der weiße Kreis eine Eisscholle, die auseinanderbricht. Tänzerinnen und Tänzer kommen hinzu, verteilen sich dynamisch im Raum. Langgezogener Klagegesang der Instrumente erfüllt die Luft.

Das intellektuelle Gesamtkunstwerk hinterlässt bei vielen Besucherinnen und Besucher Irritation. Es wäre spannend zu verfolgen, wie sich das Ökosystem „Lunar Cycle“ in den kommenden Wochen entwickelt. Dynamik scheint garantiert: Siegal hat für die Produktion über 100 Laien gewonnen, die das choreografische Material erlernt und ihr eigenes Bewegungsrepertoire entwickelt haben. Nun tanzen sie gemeinsam mit den Profis den Klimakollaps.

Glücklich kann sich schätzen, wer in der Nähe des Museum Folkwang wohnt – die Eintrittskarte berechtigt zum mehrmaligen Besuch.