Das Mädchen aus Brunettis Albträumen
Donna Leon lässt im 17. Fall des Commissario die Willkür triumphieren.
Düsseldorf. Eine andere, fast verdüsterte Donna Leon präsentiert sich in Commissario Brunettis siebzehntem Fall, "Das Mädchen seiner Träume". Zwar ist die amerikanisch-stämmige Schriftstellerin mit ständigem Wohnsitz in Venedig seit je eine Skeptikerin, doch so triumphal-finster wie hier sah die Welt des Bösen denn doch meist nicht aus.
Guido Brunetti wird konfrontiert mit einem Fall, der, geht es nach Vize-Questore Giuseppe Patta, gar keiner ist und am besten nie einer wird. Das gibt er Brunetti sehr bald zu verstehen. Doch als der sich halsstarrig nicht darum kümmert, sondern zu ermitteln beginnt, wird Pattas Ton ungewöhnlich harsch.
Da treibt also die Leiche eines etwa elfjährigen Mädchens mit dunkelbrauner Hautfarbe im Kanal, mit Prellungen an den Armen und seltsamen Malen am Hals. Die Tote ist, so das Resultat der Gerichtsmedizin, ein Roma-Mädchen. In der Questura weiß man bestens, wo die Wohnwagen der Roma stehen. Doch dort schlägt Brunetti und Vianello eisiges Schweigen entgegen. Die tote Ariana wird zum Mädchen seiner Albträume.
Doch das wirklich peinigende Rätsel ist die Frage, ob denn niemand das Kind vermisst hat? Und was hat es zu bedeuten, dass es an einer verschwiegenen Körperregion einen goldenen Ehering und einen ebensolchen Manschettenknopf aufbewahrte?
Doch wie immer lässt uns Donna Leon nicht nur an ihrem Zorn über venezianische Zustände teilhaben, sondern auch an deftigen Sprüchen, wenn Vianello sagt: "Wenn ich jemals die Hand gegen Nadia erhöbe, würde sie mich binnen zwei Sekunden mit dem Küchenmesser an die Wand nageln. Vielleicht sollten ja mehr Frauen so reagieren."
Kriminelle Dynamik entwickelt sich erst nach der Hälfte, bis dahin häuft Donna Leon emsig Sprengstoff auf. Brunettis Ermittlungen führen ihn in die sogenannten besseren Kreise, zur einflussreichen Familie des Industriellen Fornari mit Tochter und Sohn, der sich gerade dank buchstäblich ausgezeichneter Noten an der Universität einschreiben will.
Der Vater, bejaht, ihm fehle da ein Manschettenknopf, aber, herrje, er habe keine emotionale Bedeutung, und der materielle Wert sei auch unerheblich. Warum und wem zuliebe kann Fornari nur mit größter Mühe sein Mienenspiel beherrschen?
Als ihn danach wieder Dusan, Arianas kleiner Bruder, verfolgt, ihm unter Tränen die beiden gestohlenen Gegenstände in die Hand drückt, da sind nicht nur die Umstände des Verbrechens sonnenklar, sondern da steht auch der Täter fest.
Doch dass Brunetti dann nicht so handeln kann und darf, wie es ihm nicht nur das Gewissen gebietet, das ist selber gesetzwidrig. Und es demonstriert eindringlich, dass es für Sinti und Roma keine Integration, ja vielleicht nicht einmal die üblichen Gesetze gibt.
Donna Leon seziert mit bekannter Schärfe eine korrupte Gesellschaft. Anfang und Ende des Romans sind der tragende Rahmen, der der bedrückenden Realität die Wirkungsmächtigkeit nimmt, der Tod bildet Anfang und Ende. Zuerst geben Brunetti und seine Familie der Mutter das letzte Geleit. Am Ende ist er mit einem seltsamen Padre einer der wenigen Trauergäste an Arianas Grab.
So ist denn, wo die Gerechtigkeit versagt, dem Menschen wenigstens Würde und Ehre zuteil geworden.
Donna Leon: "Das Mädchen seiner Träume. Commissario Brunettis siebzehnter Fall." Aus d. Amerikanischen Christa E. Seibicke, Diogenes Verlag, 351 Seiten, geb., 21,90 Euro