Das Schicksal fragt nicht

Am Mittwoch erscheint der neue Roman von Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino: „Glück in glücksfernen Zeiten“.

Düsseldorf. "Glück in glücksfernen Zeiten" - schon Wilhelm Genazinos frühere Romane handeln von Glücks-, Liebes- und Heimatsuche. Die Gegenwart lässt die Erfüllung solcher Sehnsüchte in stets fernere Fernen rücken. Sehnsüchte - das Wort könnte Genazino gefallen, der seinen neuen Held in der "Abendverfinsterung" auch mal "herumempfindeln" lässt.

Wie alle spielt auch dieser Roman in Frankfurt, wo er "angeschlagene Untergeher" und in sich selber eine "Liebesarbeitsscheu" entdeckt. Dabei will er doch nur ein "kleines Anfangsglück" mit "wohlgesonnenen Folgeglücken". Der mit der "Zweithose" plötzlich und zufällig eine "Zeithose" assoziiert.

Dr. Gerhard Warlich - ja, kein Schreibfehler - hat es, obwohl er sein Philosophie-Studium mit einer Dissertation über Heidegger abschloss, als 41-Jähriger nur zum Orga-Leiter eines Wäschereinigungs-Unternehmens gebracht. Ihn plagen indes zwei andere Probleme: Das erste ist die Bankkauffrau Traudel, mit der er eine unverheiratete Beziehung unterhält, die neuerdings einen Kinderwunsch hegt. Warlich mag ja Kinder und schaut ihnen mit zärtlichem Staunen über das Wundersame ihres Wesens zu. Aber mit sich selber bringt er sie keinesfalls in Verbindung.

Und das zweite ist ein lebensinhaltliches: In all seiner "melancholischen Verwilderung" und "metaphysischen Bestürzung" möchte er am liebsten ein "Halbtags-Leben" führen und gegen die "täglichen Schrecken der Herabsetzung" eine "Schule der Besänftigung" gründen.

Dieser Warlich ist dem als Philosoph ebenfalls gescheiterten protagonisten aus "Liebesblödigkeit" in Geisteshaltung, abgründigem Gestus und oft bitter-sarkastischer Lebens-Verzagtheit ähnlich. So liebt er es, ab und zu ein Tränchen zu verdrücken, ein wenig der "Selbstbeweinung" zu frönen und mutmaßt einmal, auf seinem Totenschein werde dereinst als Todesursache "Überempfindlichkeit" stehen. Und darauf "wäre ich sogar als Toter noch stolz". Seinem Seelchen ist es immer unzuträglich, "zu lange von mir selbst getrennt zu sein", was die berufstätige Welt alltäglich aber verlangt.

Dieser Held schleppt nicht nur sein Lebensleid mit sich herum, sondern immer noch die Erinnerung an seine längst tote Mutter und ihre wunderbar molligen Brüste. Deren Kinderwünsche waren allein aus Lebens-Unzufriedenheit erwachsen, was er gegenüber Traudel ins Feld führt. Das endet im handfesten Krach: "Ich brauche deine Ratschläge nicht, du bist unreif", haut sie ihm um die Ohren und rauscht davon.

Ja, denkt er da, "das Schicksal klopft nicht an und fragt nicht, das Schicksal tritt ein". Und es kommt noch dicker: Als er eines nachmittags während der Arbeitszeit zufällig eine Anarcho-Demo beobachtet, wird ihm das als Teilnahme ausgelegt und er fristlos gefeuert.

Nunmehr könnte er, ohnehin seelisch regressiv, nur noch seinem Leben als Beobachter nachgehen. Doch wer umgibt ihn da? "Seltsam verlorene und in ihrem Elend starrsinnig gewordene Menschen, schamhafte Flaschensammler, niedergekauerte Alkoholiker, umherschweifende Jungfaschisten, gehetzte Prospektverteiler, traurig blickende Pförtner."

Lebensnot und Not am Leben, der überhöhte Leidensdruck - Genazinos Anti-Helden sind wie die von Tschechow stets geprägt von tiefem Mit-Leiden - könnten prägnanter nicht dargestellt werden. Wehrlos erleiden sie Anmaßung, bodenlose Hohlheit, Lächerlichkeit, verstiegenes Geschwätz und Verlogenheit. Kein lebender deutscher Schriftsteller kann mit Genazinos Kunst der Sprache und der Situationskomik mithalten. Mögen andere Ruhm auf sich häufen, er legt uns das "heimliche Leben" als "das wahrere" nahe. Recht hat er.

Wilhelm Genazino: "Das Glück in glücksfernen Zeiten." Roman. Carl Hanser Verlag, 158 S., geb., 17,90 Euro