Proletarischer Autor Das zwiespältige Erbe des Maxim Gorki
Moskau (dpa) - Die Brille von Maxim Gorki wartet auf dem Schreibtisch. Bunte Stifte liegen aufgereiht, als ob der russische Schriftsteller sie jederzeit wieder zur Hand nehmen könnte.
Das Maxim-Gorki-Museum in Moskau in einer fantasievollen Jugendstilvilla setzt alles daran, seine Lebenswelt authentisch zu erhalten.
Russische Literaturmuseen inszenieren ihre Helden voller Ehrfurcht. Auch Gedenkstätten für Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewski oder Anton Tschechow sehen so aus. Nur hat Gorki, der vor 150 Jahren, am 28. März 1868, geboren wurde, ein zwiespältigeres Erbe hinterlassen als sie. Über die geschwungene Marmortreppe der Villa, die Besucher heute hochstiegen, ist auch der sowjetische Diktator Josef Stalin gegangen, der den gefeierten Meister vor dessen Tod 1936 mehrmals besuchte.
Die sowjetische Kulturpolitik hat den proletarischen Schriftsteller geradezu vergöttert. Aus seinem sozialkritischen Werk entwickelte sie die Doktrin des sozialistischen Realismus - mit bitteren Folgen für die Literatur in der östlichen Hälfte Europas über Jahrzehnte hinweg.
Alexej Peschkow, so der eigentliche Name, wurde in der Handelsstadt Nischni Nowgorod an der Wolga geboren. Seine Herkunft war nicht ganz so ärmlich, wie er behauptete. Doch in Lehr- und Wanderjahren durch Russland machte er Erfahrung mit Armut, arbeitete und legte sich in seinen literarischen Anfängen den Künstlernamen Gorki (der Bittere) zu. Als erster russischer Schriftsteller schrieb er im ausgehenden 19. Jahrhundert über Industriearbeiter. Sein Werk sollte aufrütteln, ihr elendes Los verbessern.
Der Durchbruch gelang ihm mit Sozialdramen. Gorki zeigte darin Gesellschaften am Vorabend einer Erschütterung, einer Revolution. „Das Nachtasyl“ kam 1902 zeitgleich mit Russland auch in Deutschland auf die Bühne und brachte es bis 1905 auf 500 Aufführungen. Das Stück endet mit einem Loblied auf den künftigen freien Menschen: „Mensch! Das ist großartig! Das klingt stolz!“
Andere Erfolge waren „Sommergäste“ und „Kinder der Sonne“. Als Kritiker der Zustände im Zarenreich lebte er von 1906 bis 1913 im Exil in Italien und den USA. Nach der Oktoberrevolution folgten von 1921 bis 1931 Jahre in Deutschland, Tschechien und wiederum Italien.
Das Urteil über Gorkis literarische Qualitäten fällt bis heute gespalten aus: Die Kunst sprachlich genauer Milieustudien steht gegen eine ungelenke Anlage von Personen und Handlungen. Auch die „immer wieder durchbrechende Tendenziosität des großen Schriftstellers“ beeinträchtige den künstlerischen Wert seiner Werke, schreibt der Göttinger Slawistikprofessor Reinhard Lauer.
Das gilt vor allem für den Roman „Die Mutter“ von 1906 (Lauer: „das schwächste Werk“), eine Erweckungsgeschichte, wie eine Arbeiterwitwe zur überzeugten Revolutionärin wird. Doch genau dieses Buch machte die Kulturpolitik unter Stalin zum sozialistischen Vorzeigeroman, zum Maß für die gesamte Literatur.
Nach Rückkehr in die Sowjetunion übernahm Gorki 1934 den Vorsitz des Schriftstellerverbands. Auf einem Kongress wurde der sozialistische Realismus als verbindlich festgeschrieben: unbedingte Parteilichkeit, Volksverbundenheit, Aufbauoptimismus. Stalin sah Schriftsteller als „Ingenieure der Seele“ bei der Erschaffung des neuen Sowjetmenschen.
In diese Zwangsjacke passten über die Jahrzehnte viele geniale Schriftsteller nicht wie Michail Bulgakow, Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa, Alexander Solschenizyn, Josif Brodski. Widerspruch hieß nicht nur, nicht gedruckt zu werden; er konnte Exil, Haft oder Tod bedeuten. Gorki versuchte zwar, verfolgten Kollegen zu helfen. Doch er ließ sich einspannen. In einem großen Personenkult wurden das Literaturinstitut in Moskau, Flugzeuge und Schiffe nach ihm benannt. Auch seine Heimatstadt Nischni Nowgorod hieß von 1932 bis 1990 Gorki.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stülpte die Sowjetunion ihre Kunstdoktrin und den Gorki-Kult auch den anderen Ländern in ihrem Machtbereich über - Polen, Ungarn, Tschechoslowakei und der DDR. Daher stammen die Maxim-Gorki-Straßen in vielen ostdeutschen Städten. Und mitten in Berlin gibt es das Gorki-Theater, gegründet als „Musterbühne des sozialistischen Realismus“ (Ex-Intendant Volker Hesse 2002) und derzeit eine der interessantesten Bühnen der Stadt. Zum Jubiläum soll im Juni Gorkis Stück „Die Letzten“ Premiere haben in der Regie des Ungarn András Dömötör.
Auch Russland erinnert in diesem Jahr an Maxim Gorki. In einem Erlass dazu sprach Präsident Wladimir Putin vom „überragenden Beitrag Maxim Gorkis zur vaterländischen und weltweiten Kultur“. Das hört sich nicht nach einer Neubewertung an, auch wenn Gorki aus dem Lesekanon der russischen Schulen mittlerweile verschwunden ist.