Ein Gefängnis namens DDR
Dem Dichter Reiner Kunze ist in der DDR übel mitgespielt worden. Anlässlich einer Lesung in Neuss erinnert er sich an diese Tage.
Düsseldorf. Herr Kunze, Sie schrieben vor über 30 Jahren Texte, die sich mit dem Alltag der DDR beschäftigten. Sind sie für Sie jetzt weit weg?Kunze: Warum sollten sie weit weg sein? Ich hoffe, sie erzählen von den Menschen. Wenn ja, können sie gar nicht weit weg sein, denn was im Menschen vorgeht, ist immer von Belang. Und wenn Sie Gedichte meinen sollten, dann werden diese hoffentlich etwas zu unserer Vorstellungswelt beisteuern, das über den Anlaß ihres Entstehens oder über die Umstände, die durch sie hindurchschimmern, hinausgeht. Haben Ihre "Wunderbaren Jahre" zum Mauerfall beigetragen?Kunze: Das kann ich nicht ausschließen, aber als ich das Buch schrieb, habe ich nicht daran gedacht. Ich war eher davon überzeugt, dass es nie gedruckt werden würde. Ich wollte nur, dass es geschrieben ist. Sie würden sich nicht als Dissidenten bezeichnen?Kunze: Das ist eine Frage der Definition. Ich habe für das, was ich geschrieben habe, den Kopf hingehalten, aber ich habe nicht geschrieben, um Politik zu machen. Ich weiß nicht, wie man die Welt verändern kann. Ich kann nicht rufen "Mir nach!". Lassen Sie sich den Vorwurf gefallen, unpolitisch zu sein?Kunze: Es gibt meine Bücher und es gibt mein Leben. Wer immer diesen Vorwurf erhebt, dem kann ich wirklich nicht helfen. Gibt es Bitterkeit in Ihnen bezüglich desssen, was Sie in der DDR erlebt haben?Kunze: Bitterkeit legt Verbitterung nahe, ich bin kein verbitterter Mensch. Wenn wir dieses Wort aber verwenden wollen, dann eher im Hinblick auf diejenigen hier im Westen, die meinten, das, was wir erlebt hatten, hätten wir gar nicht erleben können. Die Westler haben Ihnen der Osten erklären wollen?Kunze: Nicht nur erklären. Während einer Signierstunde in Koblenz fragte mich eine junge Frau: "Warum sind Sie eigentlich herübergekommen?" Ich antwortete ihr, dass ich wahrscheinlich sonst ins Gefängniss gegangen wäre. Darauf sie: "Na und, ist das so schlimm?" Mein Freund, Wolfgang Cremer vom S. Fischer Verlag, kann das bezeugen. Es gibt dieses bekannte Foto aus dem Stasi-Archiv von Ihrer Ausreise. Ein Wartburg verlässt die Grenzübergangssstelle Richtung Westen. Was erwartete sie?Kunze: Als wir die DDR verlassen hatten, saß im Warteraum der Poliklinik, in der meine Frau tätig war, ein Herr, der vermutlich im Auftrag der Staatssicherheit den eintretenden Patienten sagte: "Frau Dr. Kunze ist gestorben." Mir war klar, dass man den Menschen über unseren Weggang nicht die Wahrheit sagen würde. Um die Gründe für unsere plötzliche Übersiedlung nennen zu können, gab ich der ARD ein Interview, in dem ich u.a. sagte: "Von dort, und damit meine ich das dort real existierende gesellschaftliche System, von daher kommt kein neuer Anfang für die Menschheit." Ab diesem Augenblick lichteten sich hier im Westen die Reihen derer, von denen wir Solidarität erfahren hatten. Für die einen war ich nun ein Gegner, den es politisch und menschlich zu diskreditieren galt, andere zogen sich zurück, um nicht selbst diskreditiert zu werden. Wie beurteilen Sie die heutige Zeit? "Die Linke" feiert nicht nur im Osten politische Erfolge.Kunze: Nach erscheinen des Buches "Deckname Lyrik", das Auszüge aus den ersten 12 Bänden meiner Staatssicherheitsakte enthält, habe ich auf öffentliche Fragen wiederholt geantwortet: Ich weiß, wie man indoktriniert werden kann. Wenn jemand von denen, die unser Vertrauen missbraucht haben, sagte, es tue ihm leid, gäbe ich ihm die Hand und die Angelegenheit wäre erledigt. Ich möchte nicht, dass man lügt und je wieder von solchen Leuten regiert werde. Doch sie lügen, dass sich die Balken der Geschichte biegen, und sie regieren schon wieder überall mit. Schmerzt das?Kunze: Man hat Übung im Verlieren. Ist die deutsche Sprache durch die Mauer getrennt worden?Kunze: Auf dem Niveau, auf dem sich ein Schriftsteller bewegen sollte, war die deutsche Sprache immer die deutsche Sprache. Ich habe jedes Wort verstanden, das Grass geschrieben hat, und ich hoffe, auch er hat, sollte er etwas von mir gelesen haben, jedes Wort verstanden. Natürlich gab es im Osten in der Funktionärssprache und in der Parteipresse russische Einflüsse, grammatische Konstruktionen bis zur Erstarrung, Substantivhäufungen, und der verheerende Ersatz präziser deutscher Wörter durch englische hier ist nicht zu leugnen. Aber das sind Zeiterscheinungen. Also auch die Mauer zwischen den Sprachen wird fallen?Kunze: Wenn zwei Generationen gestorben sein werden, werden auch die teilungsbedingten Einfärbungen verschwunden sein.