Eine Geschichte von Liebe und Tod

Belletristik: „Überlebnis“ von Ulla Berkéwicz beschwört Existenzielles.

Düsseldorf. "Die einzige Angst, die ich jetzt noch habe, ist die, zu vergessen", beginnt es. "Ich habe keine Angst mehr, zu vergessen, weil die Erinnerung beginnt", endet die Erzählerin. Denn: "Vielleicht sind unsere Toten unsere Zukunft. Vielleicht ist Zukunft unsere Erinnerung."

Dieses Buch, das sich einem Genre verweigert - ausgewiesen weder als Roman, noch als Erzählung oder Essay - ist vielleicht nur schiere Erinnerung, eine Arbeit zum Überleben.

Ulla Berkéwicz, Witwe des 2002 verstorbenen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld, hat erklärt, der Sterbende, von dem die Ich-Erzählerin spricht, sei nicht Unseld, auch wenn es zahllose Ähnlichkeiten gibt, vom efeubewachsenen Haus in Frankfurt bis zum Tag der Beisetzung: "Blitzlichter, Beuteblicke." Doch ist Spekulation unangemessen, wir haben die Autorin zu respektieren. Der Tod ist ein so unfassbares Ereignis, dass es sich verbietet, Fiktion und Realität gegeneinander auszuspielen.

Was wird also erzählt? Ein Mann, im Text stets "der Mann", erkrankt zum Tode, plötzlich, am Herzen. Das übliche Procedere nimmt seinen Lauf, Intensivstation, Krankenlager am Tropf und vielen Schläuchen, Flucht ins heimische Haus mitsamt dem Tropf, der den Tod nur hinauszögert für ungewisse Zeit, schließlich das Ereignis, das Numinose, Unsagbare. Diese Geschehnisse werden erzählerisch verbunden und erinnert mit dem vorausgegangenen Sterben anderer Menschen, die ihr nahestanden.

Es waren jüdische Freunde und Verwandte aus Amsterdam, Weißrussland, Galizien. Hinreißend, wie Ulla Berkéwicz den Tod des schamanischen Heilkundlers Alik mehrfach in der Erinnerung heraufbeschwört, die Ansammlung der Freunde im Garten und im Haus, das rituelle Klagen, Schreien und Jammern, verbunden mit ausgiebigem Wodkagenuss. Das beschwört die untergegangene Welt des osteuropäischen Judentums, der herrlich wilden, überborden phantasievollen Ashkenazim, farbig zeichnend herauf.

Aber auch die grauenerregenden Krankenhauszustände, Ohnmacht und Hilflosigkeit der Angehörigen, das der Willkür einer undurchschaubaren, rücksichtslosen Maschinerie ausgelieferte Menschsein sind erschütternd geschildert und fast lyrisch reflektiert - wie Poesie eben. Hier gelingt Ulla Berkéwicz’ Erzählen Höhepunkte, bei denen man beides kann, grinsen und heulen.

Etwas sperriger hingegen geraten die Abschnitte, in denen über Gott, Liebe, Leben und Tod, Vergängnis und Erinnerung sowie die Rolle des Todes in den Religionen philosophiert wird. Sie stehen in befremdlichem Gegensatz dazu, wenn die Erzählerin ihre Swatch-Uhr dem siechen Mann statt seiner zu schwer gewordenen Rolex umlegt. Damit sie auch im Grab weitertickt. Das ist, mit Verlaub, geschmacklos.

Der Titel "Überlebnis" ist buchstäblich doppelbödig. Die Erzählerin schildert, wie sie den Tod des geliebten Menschen verwindet, überwindet. Aber schon zuvor, im grauslichen Jahr 1943, als der nächtliche Bombenterror herrschte, da war eine Gemeinde versammelt, erinnert sie, als die Pianistin Millie Loewenthal und ihr Vater Bachs Toccata vierhändig spielten. Plötzlich riss man die Fenster auf - und siehe, es herrschte Stille. "Und stell dir vor, hatte der Vater mir gesagt, kein Mensch hat sich gerührt. Ein Überlebnis, hatte er gesagt, der Vater, meiner, stell dir vor!"