Eine Stadt flippt aus: Paraty feiert seine Buchmesse
Paraty/Frankfurt (dpa) - Edmilson Santini ist in das farbenprächtige Folklore-Gewand seiner im Nordosten Brasiliens gelegenen Heimatregion Pernambuco geschlüpft, um seine kleinen Lyrikbändchen loszuschlagen.
Vier brasilianische Reais (etwa 1,40 Euro) verlangt der 56-Jährige vor dem großen Lesezelt in Paraty für seine auf einfachem Papier gedruckten Gedichte. „Ich habe schon 70 davon geschrieben“, berichtet er stolz.
Beim internationalen Literaturfestival FLIP, das am Sonntag zu Ende ging, treffen sich in Paraty Freizeitdichter mit weltbekannten Autoren wie Booker-Preisträger John Banville. Das traumhaft schön zwischen Meer und Bergen gelegene Kolonialstädtchen, 300 Kilometer südlich von Rio gelegen, „flippt“ regelmäßig aus. Auch dieses Mal sind wieder viele Tausende zu dem hochprofessionell organisierten Festival gepilgert - zu unzähligen Lesungen, Off-Events oder Konzerten mit Tropicalismo-Altstar Gilberto Gil.
„Paraty ist das literarische Disneyland der Brasilianer“, spöttelt Luiz Ruffato, einer der politisch engagiertesten Autoren Brasiliens, das dieses Jahr im Oktober Ehrengast der Frankfurter Buchmesse ist. Brasilien, dessen Image als Wirtschaftswunderland seit den jüngsten sozialen Massenprotesten angekratzt ist, möchte auf dem internationalen Buchmarkt aufholen. 70 Autoren und mehr als 100 Verlage werden auf die weltgrößte Bücherschau geschickt.
„Auch Kultur kann für uns ein Exportartikel sein“, sagt Renato Lessa von der Brasilianischen Nationalbibliothek in Paraty. Er ist für den rund sieben Millionen Euro teuren Auftritt in Frankfurt verantwortlich. Ein ehrgeiziges Übersetzungsprogramm der brasilianischen Regierung soll dafür sorgen, dass Brasiliens Literatur nicht nur mit dem Altmeister des exotischen Brasiliens, Jorge Amado (1912-2001), und den esoterisch angehauchten Bestsellern von Paulo Coelho weltweit verbunden wird.
Allein zur Buchmesse kommen rund 50 literarische Neuerscheinungen auf Deutsch heraus, weltweit sind fast 300 Übersetzungen geplant. „Brasilien ist inzwischen der neuntgrößte Buchmarkt der Welt“, sagt selbstbewusst Karine Pansa, Präsidentin des Buch-Dachverbands des Landes. Vor allem Mexiko und Kolumbien, aber auch China sieht sie gerade bei Sachbüchern als Exportmärkte.
Intern beschränkt sich der Belletristik-Markt vor allem auf den reicheren Teil der Mittelklasse. Dieser wird zwar immerhin schon die Hälfte der rund 200 Millionen Brasilianer zugerechnet, die Auflagen für Romane sind jedoch nicht mit Deutschland vergleichbar.
Mit Themen wie sozialer oder Geschlechter-Identität kreisen die jüngeren Autoren ähnlich wie in Europa oder den USA um Probleme der vor allem in den Metropolen Rio und São Paulo lebenden Mittelschicht. Politik ist weniger gefragt, was ein Autor wie Luiz Ruffato bedauert. Mit seinem 2012 auf Deutsch erschienenen Roman „Es waren viele Pferde“, in dem der 52-Jährige das ganze Elend im 20-Millionen-Moloch São Paulo in 69 Episoden unglaublich kreativ einfängt, hat er eine kleine literarische Revolution in Brasilien ausgelöst. Ruffato hält in Frankfurt auch die literarische Eröffnungsrede.
„Die Literatur ignoriert zu sehr die soziale Realität wie den täglichen Rassismus im Land“, sagt Paulo Scott. Mit seinem Roman über das Scheitern einer Beziehung zwischen einem Studenten und einer Guaraní-Indianerin hat der 46-Jährige im vergangenen Jahr einen der wichtigsten literarischen Preise des Landes erhalten. „Unwirkliche Bewohner“ heißt der Band, der zur Buchmesse auf Deutsch erscheint.
Ganz unwirklich ging es beim FLIP dann aber nicht zu: Die Organisatoren setzten spontan Diskussionen zu den jüngsten Protesten an. Junge Internetblogger gaben sich überzeugt davon, dass im Kampf gegen Korruption und bessere Bildung eine neue Zeitrechnung im Land begonnen habe. Auch der altgediente Brasilien-Korrespondent der renommierten spanischen Zeitung „El País“, Juan Arias, war begeistert: „Ich bin stolz, dass Brasilien aufgewacht ist.“