Ferdinand von Schirach: So schnell wird man schuldig
Der schreibende Anwalt Ferdinand von Schirach geht in seinen Erzählungen seltsamen Kriminalfällen auf den Grund.
Berlin. Die junge Ehefrau wird von ihrem betrunkenen Mann geschlagen, missbraucht, erniedrigt. Später wird ein medizinischer Bericht die Verletzungen auf 14 Seiten auflisten. Jahrelang erträgt Alexandra die Tortur - vor allem wegen ihrer kleinen Tochter und der Illusion von Familie.
Doch dann wird der Sadist in seinem Bett erschlagen, offenbar mit einer Statue. Der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach erzählt in seinem neuen Buch "Schuld", wie er die wegen Mordes angeklagte Frau verteidigt. Der Prozess endet überraschend.
15 Fälle aus der Praxis hat Schirach in dem gerade erschienenen Band zusammengetragen, sie verfremdet und literarisch verdichtet. Präzise, lakonisch bis zur Kargheit und teilweise atemberaubend erzählt der Anwalt. Er hat die schicksalhaften Verkettungen im Blick, die entweder geradewegs oder mit einer Verzögerung von Jahren ins Unglück führen. Ihn interessieren Morde, die prinzipiell jeder begehen könnte.
Mit seinem ersten Erzählband "Verbrechen" hat von Schirach 2009 bereits einen fulminanten Coup gelandet. Er bekommt für "das meistbeachtete Debüt der deutschen Literatur 2009" in diesem Jahr auch den Kleist-Preis. Denn nach Angaben des Verlags ging der Band mehr als 150000 Mal über die Ladentheke. Er stand zehn Monate auf der "Spiegel"-Bestsellerliste. Die Rechte wurden in 30 Länder verkauft, die Film-Rechte hat sich Constantin gesichert.
Kein Jahr später legt der Autor und Anwalt neue Erzählungen vor. Er habe die Geschichten im Kopf gehabt und sie nur noch schreiben müssen, sagt von Schirach. Ganz so glatt geht aber auch ihm das Schreiben nicht von der Hand: "Dann gehe ich spazieren oder etwas essen, irgendwann funktioniert es wieder."
Von Schirach hält sich nicht lange im Gerichtssaal auf, er erzählt auf rund 200 Seiten lieber von ungewöhnlichen Lebensläufen. So wie in "DNA" die Lebenswege von Nina und Thomas, die 19 Jahre nach dem Tod eines alten Mannes festgenommen werden und sich noch vor dem Prozess erschießen.
Wie schnell eine Situation aus dem Ruder laufen kann, zeigt von Schirach in "Die Illuminaten". Internatsschüler quälen einen Mitbewohner, doch zu Tode kommt ein anderer Mensch. Auch wenn die Frage nie direkt gestellt wird, ist sie zu spüren: Warum wird einer zum Verbrecher und ein anderer nicht?
Und es geht um Schuld, doch oft liegt sie nicht klar auf der Hand. Warum schlägt beispielsweise ein junger Araber einem Mann mit einem Hammer die Zähne aus dem Mund? Schirach findet auch in diesem Fall Zwischentöne. Er sucht das Grau hinter dem Schwarz und Weiß der eindeutigen Schuldzuweisung.
Seine Protagonisten sind Mitmenschen, ihr Schicksal geht dem Leser nahe, sie verlassen ihn nicht, wenn er das Buch zugeklappt hat. Aber ihn beschäftigen auch die Grenzen der Justiz wie in der Geschichte über Holbrecht, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Gefängnis gesessen hat.
Ob auch Selbsterlebtes in den Fällen steckt? "Die Geschichten erleben ja die anderen, der Anteil des Anwaltes ist gering", sagt von Schirach. Deren Wirkung entfaltet sich nicht nur über den kriminologischen Inhalt, sondern auch über die exzellente Form. Der Autor komponiert seine Geschichten straff.
Mit knappen Sätzen baut er Spannung auf, beschreibt präzise Details von Tatorten wie den Rost auf einem Treppengeländer, setzt auf Sachlichkeit ohne Voyeurismus. Den Satz: "Die Dinge sind, wie sie sind", hat er sein Buch überschrieben. Es soll der letzte Band mit Kurzgeschichten sein, sagt von Schirach. "Ich sitze bereits an einem anderen Buch, aber ich möchte noch nicht darüber sprechen."
Der prominente Anwalt, der im Gericht meist freundlich distanziert wirkt, gab in einem Interview mit der "Zeit" kürzlich Einblicke in sein Leben. Er habe schon als Kind gefremdelt. Der Beruf des Strafverteidigers sei eine Art Rettung für ihn gewesen. Schirach meinte, er habe erst durch seine Mandanten begriffen, dass er mit dem Gefühl der Leere nicht allein sei. Das habe ihn beruhigt.