Flucht und Vertreibung in der Literatur Geschichten vom Unterwegssein und nie Ankommen

In der Literatur sind Flucht und Vertreibung ein klassisches Thema — auch, weil viele Autoren ihre Heimat verlassen mussten.

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Düsseldorf. Einen Namen hat der Junge in Dieter Fortes Roman nicht — aber viele Gründe, zu verzweifeln. „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ ist der zweite Teil einer Trilogie des 1935 in Düsseldorf geborenen und heute in Basel lebenden Schriftstellers. In seinem Buch wird viel gestorben. Forte schreibt über den Naziterror im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk („Quartier“) und über die Bomben, die spätestens ab dem Kriegsjahr 1942 auf Düsseldorf abgeworfen werden.

„Der Junge“, wie er im Buch genannt wird, hätte allen Grund, seine Heimatstadt zu verlassen. Eine neue Heimat, die seine Familie mit italienischen, französischen und polnischen Wurzeln erst gefunden hat, nachdem sie die alte aus politischen und religiösen Gründen verlassen hatte. Davon handelt der erste Teil der Trilogie („Das Muster“, 1992).

Wohin der Junge vor dem Bombenhagel hätte fliehen können, ist freilich eine andere Frage. Deutschland hatte wieder einmal einen Weltkrieg angezettelt, die Vernichtung der europäischen Juden lief auf Hochtouren, es gab keine Länder, in die Deutsche hätten gehen können — selbst, wenn es in den 40er Jahren noch möglich gewesen wären. Diejenigen Deutschen, die sich vor den Nazis in andere Länder wie die Niederlande, Belgien oder Frankreich in Sicherheit gebracht haben, sind längst weitergezogen. Darunter Hunderte Intellektuelle — Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Denker.

Franz Werfel (1890-1945) hat sich 1938, kurz vor dem Anschluss Österreichs, mit seiner Frau Alma Mahler (1879-1964) nach Frankreich abgesetzt. Zunächst in den Süden, nach Sanary-sur-mer, wo bereits Dutzende Deutsche leben. Nach einem Intermezzo in Lourdes flüchten Werfel und Mahler zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien. Heinrich Mann (1871-1950), dessen Ehefrau Nelly und Golo (1905-1994), der erste Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann (1875-1955), schleichen mit ihnen über die Grenze.

Aus Dankbarkeit für seinen lebensgefährlichen Grenzgang veröffentlicht Werfel 1941 das Lourdes-Buch „Das Lied von Bernadette“. Flucht und Vertreibung hatte er zuvor im historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ geschildert — am Beispiel des Völkermordes der Türken an den Armeniern, der sich 2015 zum 100. Mal jährt.

Wie Heinrich Mann fühlt sich Werfel nie richtig wohl in seinem Exil. „Fremdsein ist ein gewaltiges Handwerk, das Fleiß und Fertigkeit erfordert“, schreibt Werfel — schon in den USA, wohin er sich aus Spanien gerettet hat. Wie auch Thomas Mann, der nach einer Zeit in der Schweiz in Kalifornien residiert. „Das Exil ist schwer zu ertragen. Aber was es leichter macht, ist die Vergegenwärtigung der vergifteten Atmosphäre, die in Deutschland herrscht“, sagt Mann 1938 der New York Times.

Im Gegensatz zu vielen seiner Exilkollegen kann Mann, der ältere, selbst im Ausland komfortabel von Tantiemen und Honoraren leben — und auch von seiner Selbstgewissheit, die nach einer depressiven Episode fünf Jahre zuvor, 1938 wieder recht stabil ist: „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. Ich lebe im Kontakt mit der Welt und ich betrachte mich selbst nicht als gefallenen Menschen.“

Manns Sohn Klaus (1906-1949 und Tochter Erika (1905-1969) verlassen Deutschland früher als ihr berühmter Vater: Der Tag des Reichstagbrandes, der 27. Februar 1933, ist ihr letzter in Deutschland. „Der Vulkan“, 1939 in Holland erschienen, gilt als bester Roman Manns und einer der bedeutenden Exilantenromane. Er handelt vom Schicksal politischer Flüchtlinge.

Andere, wie die spätere schwedische Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, 1891 in Berlin geboren, warten zunächst ab und fliehen buchstäblich in letzter Minute. 1960 kehrt sie — voller Angst — erstmals aus ihrem schwedischen Asyl nach Deutschland zurück. Nach ihrer Rückkehr nach Stockholm bricht die psychisch labile Sachs zusammen. Klaus Mann kehrt hingegen nie wieder heim: „Wir konnten nicht zurück. Der Ekel hätte uns getötet.“