Günther Grass: Achgottchen, der Vatti

Literatur: Ab Freitag liegt Günter Grass’ neuer Roman „Die Box“ in den Buchläden zum Verkauf aus.

Düssseldorf. Der berühmte alte Autor lässt im jüngsten Roman "Die Box" mit neun "Dunkelkammergeschichten" seine acht Kinder, auch mittlerweile zum Teil Großeltern, ihre Kindheit und Jugend an ihren jeweiligen Wohnorten Revue passieren. Das Ritual ist stets gleich, erst wird gegessen, dann das Tischmikrofon eingeschaltet. Und sie sollen sich erinnern, wie sie den immer berühmteren Vater erlebten, die wechselnden Mütter und Halbgeschwister in den Häusern von der Niedstraße in Berlin-Friedenau über Wewelsfleth bis Hamburg. Es wird auch einmal, als die Mutter einen neuen Lover und auch der Vater seine Frau gewechselt hat, eine Mauer durch das Haus gezogen, "wie die in Berlin".

So wird unterderhand, nach dem "Häuten der Zwiebel", hieraus eine Fortsetzung der Grass’schen Autobiografie aus allerdings beleidigend törichtem, ständig in dümmlichen Slang abrutschenden Kindesmund. Gewidmet ist das Buch der Fotografin Maria Rama, die Grass bis zu ihrem Tod 1997 mit einer alten Agfa Fotobox ("Wünschdirwasbox") mit Isochrom-Rollfilmen die jeweiligen Romanmotive aus der Realität herausgekitzelt haben soll, mit deren Hilfe er sich in die Vergangenheit "zurückspulte".

"Die olle Marie" gehört fast wie ein Möbel zur "zusammengestückten Familie", und sie sieht aus "wien verknittertes Mädchen, dünn und flach vorn". So erinnern Grass’ Zeichnungen von Marie an jene, mit denen er in Paris seinen ersten Gedichtband "Die Vorzüge der Windhühner" illustrierte. Überhaupt wird dem dokumentarischen Bedürfnis des "Pascha" und Patriarchen, seinem neuerlichen Ego-Trip in jeder Hinsicht gehuldigt: Seine vierte Frau Ute, hier Kamillchen genannt, stellt ihm während der Entstehung des Romans "Die Rättin" einen Käfig mit einer anschaulichen, weil lebenden Ratte just unter den Weihnachtsbaum. Vielleicht hat sie soviel kaltes Blut im Haus ihres Vaters, eines Arztes, kennen gelernt.

Es ist ein gewöhnungsbedürftiges Buch mit seiner oft sentimentalisch-senilen Wortwahl, mit Vatti und dem "Alten", Väterchen, Mütterchen, Geschwisterchen, Paulchen, dem Mariechen, das "Ach- achach" und "Achgottchen" seufzt und "Hat man nicht Worte für." Das wie ein Zauber-Mariechen ausstaffiert ist und, wie Grass, aus Masuren stammt und mehr sieht als alle gewöhnlichen Menschen. Sogar - heilige Maria! - den Weltuntergang.

Der widerstandsfähige, unerschütterliche Grass-Verehrer aber, der das Buch auch nach 40 Seiten nicht zugeklappt hat, findet hier wieder, was er kennt, seit Grass die Lesewelt beglückt, unverändert, in ungebrochener Selbstherrlichkeit und Selbstverliebtheit: den Wahlkampf für die Espede und Willy Brandt, die Demonstrationen in Berlin, "eingehenkelt mit Rudi Dutschke", "Bullenaufmarsch und Wasserwerfer" sowie als Appetithäppchen Schweinepfoten, Hammelnieren, Rinderherzen, Kalbszungen. Wenn aber Jasper sich erinnert, wie der Vater Aale schlachtete, dann soll das hier lieber nicht erzählt werden.

Und, ach ja, "ständig fallen die Zeitungsfritzen über ihn her". Der Arme! Aber das ändert nichts an seiner Männlichkeit, "die Neue wurde bald schwanger von ihm". Wieder wird die Familie größer, und heute ist Grass mindestens 16-facher Urgroßvater. "Er hat echt nicht richtig getickt, der Alte", sagt eines der Kinder. Sollte jemand denken, der große Dichter hätte dem Mariechen für ihre Treue etwas geschenkt, kann sie nur sagen: "Geschissen, mein Täubchen!" Immer öfter verlaufen die Sätze im Leeren...

Aber es wird natürlich auch manches untergründig intoniert, etwa, dass Vatti Mutterkomplexe quälten und sein "konfliktscheues Weglaufen". Dass er ein notorischer Lügner ist ("Wie sonst nur mein Papa lügt"). Dass er "irgendwas immer versteckt hält" und alles von früher "später voll abarbeiten musste. Die ganze Nazischeiße raufrunter." Worauf "die Zeitungsfritzen wieder über ihn herfielen". Tja, offenbar sind die da geil drauf, wie es hier stehen könnte. Dann war der Alte "ziemlich depri".

Und wenn man all das hat lesen müssen, ist man selber ziemlich depri. Nicht nur so als Zeitungsfritzin.

Günter Grass: "Die Box". Geschichten. Steidl Verlag, Göttingen, 217 S., 18 Euro