Jelineks Internet-Tagebuch "Privatroman"

Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jellinek schrieb einen „Privatroman“ – und präsentiert ihn ausgerechnet im Netz. Das ist allerdings nur scheinbar paradox.

Düsseldorf. Heimvideos bei YouTube, Familien-Homepage, Urlaubstagebuch als Blog - längst ist es zur Gewohnheit geworden, private Dinge im Internet auszubreiten. Provozierend ist es dennoch, wenn Elfriede Jelinek ihr jüngstes Werk lediglich im World Wide Web veröffentlicht - und es ausgerechnet "Privatroman" tauft. Ein Text wird der voyeuristischen Masse ausgeliefert und im Nachhinein wieder zum Eigentum der Verfasserin erklärt.

Dennoch ist der Titel nur scheinbar paradox: Denn anders als in einem Chatroom oder dem virtuellen Lexikon Wikipedia kann allein Jelinek ihren Text bearbeiten. Ihre Entscheidung ist es, den Fortsetzungsroman ruhen zu lassen oder ihn in unendlichen virtuellen Buchstabenketten fortzuführen. Allein die ersten zwei Kapitel umfassen 84 Seiten Monolog - "Kilometerweise Homepage" heißt es im Text.

Jelineks Roman treibt zwischen den Polen "Privat" und "Öffentlich" hin und her. Denn im Internet kann zwar theoretisch jeder den Text lesen, gleichzeitig läuft er Gefahr, in der Masse virtueller Information unterzugehen. Denn kein Plakat in Buchhandlungen, kein Cover preist den Roman an, stattdessen bleibt er auf Jelineks Homepage hinter dem allgegenwärtig-nichtssagenden Link "Aktuelles" verborgen.

Die Autorin betont den merkwürdigen Hybridcharakter ihres Textes noch, indem sie Widersprüche streut, wie etwa: "Mein liebes Tagebuch, dir hier vertraue ich es alleine an, leider wissen es die anderen auch schon!"

Gefangen im Zwischenraum ist auch die Geigenlehrerin Brigitte K.. Sie ist nur dem Namen nach Protagonistin des Textes, denn sie geht in einem Meer aus Assoziationen und wahnwitzigen Wortspielen der Ich-Erzählerin unter.

Der Leser erfährt nur so viel: Brigitte wurde von ihrem Mann verlassen, der mit der jüngeren Sekretärin durchbrannte. Als diese ihm ein Kind schenkt, empfindet Brigitte schmerzlich den Neid auf die "derzeitigen Besitzer von Leben". Zu Grunde liegt das Gefühl, schon im Leben tot zu sein. "Belebt" soll laut Text auch eine ehemalige Erzstadt werden, die Stadtmarketingchefs in ein Touristenparadies verwandeln wollen. Und die Ich-Erzählerin wehrt sich krampfhaft dagegen, dass sie aus unerwähnten Gründen sterben muss. So zieht sich das Wiedergängermotiv, das Jelinek bereits in dem Theaterstück "Krankheit oder moderne Frauen" beschwor, durch den Text.

Dabei nimmt Jelinek immer wieder Bezug auf die Wahl des Internet-Mediums: "Ein Buch hätten Sie zahlen müssen und eigens in den Papiermüll schmeißen, hier können Sie mich rückstandslos entfernen, aaah! Ich fühle mich wie neugeboren, weil Sie mich ausgelöscht haben."

Doch die Leser können den Privatroman zwar auf dem eigenen Bildschirm löschen, ihn aber eben nicht von Jelineks Homepage tilgen. So müssen die Wiederbelebungsversuche misslingen: Am Ende des zweiten Kapitels bezweifelt die Ich-Erzählerin, dass sie als Wiedergängerin zurück kommen kann.

Elfriede Jelinek spielt in ihrem Text mit dem Medium Internet, unterwirft es sich auf diese Weise und beraubt es der Herrschaft der Masse. So bleibt der Roman selbst im weltweit zugänglichen Netz - privat eben.

Neid Der Titel zu Elfriede Jelineks "Privatroman" ist "Neid". Die Autorin schrieb zuvor bereits die Romane "Gier" und "Lust".

Bosch Im Internet illustriert sie ihren jüngsten Text mit Hieronymus Boschs schauerlicher Darstellung der sieben biblischen Sünden.