Kriminalroman: Der neue Mankell - Das Gedächtnis des Chinesen

Ein Krimi, der uns die Welt erklären will. Und warum die so geworden ist, wie sie ist: in Asien, in Afrika und bei uns.

Düsseldorf. "Der Chinese" - ein Kriminalroman mit diesem Titel hat sich gewiss nicht den falschen Zeitpunkt gewählt. Und wenn der Autor Henning Mankell heißt, dann steht der Erfolg außer Frage. Der neue Mankell also.

Ein furioser Ritt durch drei Jahrhunderte und vier Kontinente, zusammengehalten durch die Geschichte zweier Familien, einer schwedischen und einer chinesischen, deren Wege sich zweimal kreuzen: 1863 beim Eisenbahnbau in Amerika, wo der schwedische Vorarbeiter die aus China verschleppten Arbeitssklaven wie Vieh behandelt; und 140 Jahre später, als in einem kleinen nordschwedischen Dorf die gesamte Nachkommenschaft dieses Vorarbeiters in nur einer Nacht ausgelöscht wird. "Der Chinese" - lernen wir - hat ein langes Gedächtnis.

Am Anfang steht das Verbrechen. Und verlangt nach Aufklärung. Der klassische Kriminalroman also, und wie man es von Mankell gewohnt ist, beginnt der atmosphärisch dicht, spannend und fesselnd. Eine schwedische Richterin, deren Mutter als Pflegekind in der Familie der späteren Opfer aufwuchs, nimmt die Ermittlungen in die Hand. Und die führen den Leser dann nach Nevada, Peking oder Simbabwe.

Bei Mankell aber wird diese Globalisierung des Verbrechens bald zum Verbrechen der Globalisierung. Was als klassischer Krimi beginnt, wird über weite Strecken zum politischen Leitartikel. Und manche Figuren des Romans leben weniger aus sich selbst heraus, sie müssen vor allem die Botschaften sprechen, die Mankell der Welt mitzuteilen hat.

So gründen wir 1919 mit einem Sohn des Eisenbahnsklaven die Kommunistische Partei Chinas, sitzen gut 85 Jahre später im innersten Führungszirkel dieser Partei in Peking und beschließen die Umsiedlung von einigen hundert Millionen chinesischer Bauern nach Afrika. Die einst Kolonisierten nun auf dem Weg zur Kolonialmacht.

Und ganz nebenbei verarbeitet Mankell in den Biographien seiner schwedischen Richterin und einer chinesischen Geheimdienstlerin Maos Kulturrevolution. Das kleine rote Buch ist immer dabei, vor 40 Jahren an schwedischen Seen wie chinesischen Universitäten, im Roman als überreiches Schatzkästlein, aus dem Mankell ein Mao-Zitat nach dem anderen holt, und am Ende sogar als kleine Porzellan-Rotgardistin mit Mao-Bibel, ein Geschenk der Chinesin an die Schwedin.

Als Zeichen geheimen Einverständnisses, dass trotz der schrecklichen Dummheiten der Maoisten in Ost und West ein emanzipatorischer Kern bleibe, den es hier wie dort zu bewahren gelte. Der Kriminalfall wird so mehr und mehr zur bloßen Folie, die Mankell einen kritischen Blick auf den Zustand und die Widersprüche unserer Welt werfen lässt. Wie gesagt: ein Verbrechen, zwei Familien, drei Jahrhunderte und vier Kontinente. Und das alles zwischen zwei Buchdeckeln auf 600 Seiten.

Doch das Erstaunlichste ist, dass Mankell trotz all der erwähnten Schwächen die erzählerische Kraft hat, das alles irgendwie zusammenzuhalten. Es ist gewiss kein Zufall, dass "Der Chinese" im Vorfeld der Spiele von Peking erscheint. Der Titel verweist nicht auf eine konkrete Figur, er ist eine Chiffre für den Aufstieg Asiens und dafür, was das für die Welt bedeutet. Mankell will auch keinen Kriminalfall auflösen, er will zeigen, wie und warum die Dinge so geworden sind, wie sie sind. In China, in Afrika und bei uns.

Ein etwas anspruchsvolles Vorhaben für einen Krimi, mag man einwenden. Wer aber anders als Henning Mankell könnte sich daran versuchen? Und auch wer meint, Mankell sei daran gescheitert, muss zugeben: Der Versuch allein war grandios.

Henning Mankell: Der Chinese. Zsolnay, Wien 2008, 608 Seiten, 24,90 Euro