Lindgrens Tagebücher: Alltag im Schatten des Krieges
Stockholm (dpa) - „Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben.“ Als sie diese Worte am 1. September 1939 in ihr Tagebuch schreibt, ist Astrid Lindgren 32 Jahre alt. Mit Mann und Kindern wohnt sie in Stockholm, es geht ihr gut.
Im neutralen Schweden ist sie weit weg vom Kriegsgeschehen. Tanzt bei Freunden, bis die Nachbarn sich beschweren. Hamstert Seife und Butter. Und dokumentiert gleichzeitig mitfühlend, sorgsam und akribisch das Grauen, das sich über Europa ausbreitet. Ihre am Freitag auf Deutsch veröffentlichten Tagebücher von 1939 bis 1945 offenbaren einen einzigartigen Blick auf den schwedischen Alltag im Schatten des Krieges und auf Lindgrens Gedanken über Nazi-Deutschland.
Der Krieg ist für sie oft ein „Kuddelmuddel“, das sie zu sortieren versucht. Mit Zeitungsausschnitten, die sie akribisch ausschneidet und einklebt. „Es war eine Art, das zu bewahren, was passiert war“, sagte ihre Tochter Karin Nyman der Deutschen Presse-Agentur. „Der Gedanke dahinter, Tagebuch zu schreiben, war wohl, dass sie sich erinnern können wollte.“ 17 Bücher hat Lindgren verfasst, ihre Erben haben sie unter dem Titel „Die Menschheit hat den Verstand verloren“ ungekürzt herausgebracht. Auch etliche der Zeitungsartikel und Fotos sind eingescannt enthalten.
Durch ihre Stelle bei der Briefzensur des schwedischen Geheimdienstes erfährt Lindgren mehr als andere. Ein paar der Briefe, die sie dort liest, zitiert sie oder schreibt sie sogar ganz ab. Ihre Aufzeichnungen zeigen aber, dass man nicht beim Geheimdienst arbeiten musste, um die Kriegsverbrechen zu erahnen. In Schweden ist durch die Tagebücher wieder eine Debatte darüber entbrannt, wieviel die normalen Bürger von der Judenvernichtung wissen konnten.
Aus Lindgrens Tagebüchern wird auch deutlich, dass sie Stalin, der das Nachbarland Finnland angreift, zeitweise für die größere Bedrohung als Hitler hält. „Ein geschwächtes Deutschland könnte für uns im Norden nur eins bedeuten - dass wir die Russen auf den Hals kriegen. Und dann, glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens „Heil Hitler“, als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben“, schreibt sie, als Russland das Baltikum besetzt.
Die unumwundene Sprache, die feine Ironie, der scheinbar kindlich-naive Blick auf die Welt - in vielerlei Hinsicht erkennt man die spätere Schriftstellerin Astrid Lindgren in den Tagebüchern wieder. Doch man lernt auch eine andere Seite von ihr kennen. Eine sehr emotionale, die mit ihrer kranken Tochter genauso mitleidet wie mit den Kindern im Krieg. „Sie war sehr gut darin, sowohl Leid als auch Freude zu spüren“, sagt Nyman. „Es war charakteristisch für sie, ganz intensiv zu leben. Alle Gefühle waren stark.“
Über den Schauer des Kriegs hilft sich Lindgren anfangs hinweg, indem sie die Schurken ins Lächerliche zieht. „Der kleine süße Hitler ist nun einige Zeit wie ein geölter Blitz von einem Land ins andere gerast.“ Zum Ende hin fehlt ihr oft die Kraft, das Grauen zu dokumentieren - auch, weil sie in eine persönliche Krise stürzt.
„Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück“, schreibt sie 1944. Ihr Mann Sture hat sich in eine andere verliebt, die Ehe steht auf dem Spiel, und plötzlich ist der Krieg wieder ganz weit weg. „Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich.“
Der Kontrast ist Lindgren schmerzlich bewusst. „Sie dachte manchmal, dass es nicht richtig ist, dass wir es so gut hatten“, erzählt Karin Nyman. „Trotzdem konnte sie nicht umhin, zu denken, was für ein großes Glück es war, in dem Land zu sein, das verschont wurde.“
In ihrem bürgerlichen Zuhause in Vasastan müssen die Lindgrens nur mit wenigen Einschränkungen leben. Astrid notiert im Tagebuch, wenn Kaffee, Butter oder Speck rationiert werden. Sogar Weihnachten kann die Familie relativ unbeschwert feiern. „Das stärkste Gefühl vor Weihnachten war hier in Schweden in diesem Jahr heiße innige Dankbarkeit dafür, dass wir das Fest noch feiern können, wie wir es tun“, schreibt Lindgren 1941. „(Wir mussten uns in diesem Jahr allerdings auch mit 10 Tannenbaumkerzen pro Kind begnügen.)“
Auch die Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke der Kinder Lars und Karin listet die Schwedin pflichtbewusst auf. Um Karin, die oft krank ist, sorgt sich Lindgren viel. Diesem Umstand ist es aber wohl zu verdanken, dass ihre berühmteste Figur während des Krieges entsteht. Als Karin mit einer Lungenentzündung im Bett liegt, will sie von „Pippi Langstrumpf“ hören - und die Mutter erfindet das kleine Mädchen, das Autoritäten trotzt und macht, was ihr gefällt.
„Mitten in alledem hat sie sich hingesetzt und über Pippi geschrieben, von der sie wieder und wieder erzählt hatte“, sagte Karin Nyman. „Man kann vielleicht glauben, dass es so eine Art Befreiung war, über jemanden zu schreiben, der sich nicht hat unterdrücken lassen, der diese souveräne Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen hatte und sich keinen Deut um Konventionen geschert hat.“ Kurz, nachdem der Krieg endet, erscheint Pippi Langstrumpf.
- Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945, Ullstein Buch Verlage, Berlin, 576 Seiten, 19,99 Euro (D) 19,99 (A), 21,00 (CH), ISBN-13 9783843711753. Erscheinungsdatum 25. September.