Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gestorben
Frankfurt/Main (dpa) - Deutschland trauert um Marcel Reich-Ranicki. Der berühmte Kritiker und Intellektuelle, der die literarischen Debatten der Nachkriegszeit prägte, starb am Mittwoch im Alter von 93 Jahren nach längerer Krankheit in Frankfurt.
Dies teilte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit, für die er jahrzehntelang gearbeitet hatte. Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien sowie Autoren reagierten mit großer Bestürzung auf die Nachricht. „Er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen“, erklärte Bundespräsident Joachim Gauck.
Der scharfzüngige „MRR“, der in Polen als Sohn einer jüdischen Familie geboren wurde, wuchs in Berlin auf. Zusammen mit seiner Frau überlebte er das Warschauer Ghetto und kehrte 1958 nach Deutschland zurück. Für seine Arbeit wurde Reich-Ranicki mit Ehrungen überhäuft.
Die letzten Wochen vor seinem Tod hatte der sehr gebrechliche Reich-Ranicki in einem Frankfurter Wohnstift verbracht. Er lag zuvor mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus. „FAZ“-Mitherausgeber Frank Schirrmacher hatte kurz vor dem Tod am Mittwoch Reich-Ranicki noch besucht, wie er im Online-Netzwerk Twitter berichtete. Im März diesen Jahres hatte der seit längerem angeschlagene Literaturkritiker seine Krebserkrankung öffentlich gemacht. Seine Frau Teofila starb bereits im April 2011 im Alter von 91 Jahren.
Einem Millionenpublikum wurde der Kritiker mit der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ bekannt, die er seit 1988 fast 14 Jahre lang moderierte. Neben zahlreichen anderen Büchern veröffentlichte „MRR“ 1999 seine Autobiografie „Mein Leben“, die zum Bestseller wurde. Das Buch wurde laut Verlag mehr als 1,2 Millionen Mal verkauft.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) würdigte Reich-Ranicki als „unvergleichlichen Freund der Literatur, aber ebenso der Freiheit und der Demokratie“. „MRR“ sei ein „ein brillanter Literaturvermittler und eine faszinierende wie vielschichtige Persönlichkeit“ gewesen, erklärte SPD-Chef Sigmar Gabriel.
„Er hat für Deutschland mehr getan als die meisten Kultur-Politiker“, sagte der mit Reich-Ranicki gut bekannte TV-Entertainer Thomas Gottschalk. „Mit seinen Memoiren hat er uns nichts vergessen, aber vieles vergeben.“
Noch bis ins hohe Alter gab der wortgewaltige „MRR“ in der Literaturszene den Ton an. Bis zuletzt veröffentlichte er Kolumnen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Legendär wurden seine öffentliche Kontroversen mit prominenten Schriftstellern wie Günter Grass oder Martin Walser. Im Oktober 2008 entfachte er eine Debatte über das Niveau im deutschen Fernsehen, als er im ZDF vor laufenden Kameras den Deutschen Fernsehpreis ablehnte und den „täglichen Blödsinn“ im TV kritisierte. „Er hat für Deutschland mehr getan als die meisten Kultur-Politiker“, sagte Gottschalk, der Reich-Ranicki nach diesem Eklat in eine Talkshow eingeladen hatte.
Im Jahr 1995 ließ „MRR“ in einem Verriss im „Spiegel“ und im Fernsehen kein gutes Haar an Grass' neuem Buch „Ein weites Feld“. Damit trat er eine Debatte über die Frage los, wie weit Literaturkritik gehen darf. „MRR“ teilte jedoch als Kritiker nicht nur aus: Er musste auch viel einstecken. Mitte der 90er Jahre sah er sich gezwungen, seine Rolle im kommunistischen Polen nach dem Zweiten Weltkrieg und seine Tätigkeit für den Geheimdienst zu verteidigen.
Martin Walser, den mit Reich-Ranicki eine in der Öffentlichkeit heftig ausgelebte Abneigung verband, veröffentlichte 2002 einen Roman unter dem Titel „Tod eines Kritikers“ (2002). „FAZ“-Herausgeber Schirrmacher wertete das als Abrechnung mit dem Literaturbetrieb gedachte Buch als „Exekution“ Reich-Ranickis. Trotz der Vorwürfe, das Buch bediene antisemitische Klischees, veröffentlichte der Suhrkamp Verlag den Roman. Eine Aussöhnung mit Walser kam nie zustande.
Marcel Reich wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel geboren. Sein Vater David war Kaufmann und polnischer Jude, seine Mutter Helene war deutsche Jüdin. Reich ging 1929 nach dem Konkurs der väterlichen Fabrik mit der Familie nach Berlin. Nach dem Abitur wurde er 1938 nach Polen ausgewiesen. Aus dem Warschauer Ghetto konnte er 1943 zusammen mit seiner Frau Teofila („Tosia“) fliehen. Beide überlebten den Holocaust im Untergrund.
Nach dem Krieg war „MRR“ Mitglied des polnischen Geheimdienstes und zeitweise polnischer Generalkonsul in London, wo er auch den Namen „Ranicki“ zusätzlich annahm. Er kehrte im Herbst 1949 nach Warschau zurück. Wenig später wurde er aus der Kommunistischen Partei wegen „ideologischer Fremdheit“ ausgeschlossen.
Im Jahr 1958 ließ sich Reich-Ranicki für immer in Deutschland nieder. In Hamburg war er von 1960 an Literaturkritiker der Wochenzeitung „Die Zeit“. 1973 ging er mit Joachim Fest zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und leitete dort bis 1988 die Literatur-Redaktion. Bis zuletzt arbeitete er jedoch weiter für die „FAZ“ als Kritiker und Redakteur der „Frankfurter Anthologie“.
Im August 2006 erklärte „MRR“ seinen endgültigen Abschied vom „Literarischen Quartett“, in dem er zuletzt noch in Sondersendungen mitwirkte. Ein halbes Jahr zuvor war er nach einer Sendung zum 150. Todestag von Heinrich Heine, einem seiner Lieblingsautoren, mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Reich-Ranicki, der unter den Nazis nicht studieren durfte, erhielt für seine Arbeit zahlreiche Ehrungen und neun Ehrendoktorwürden - zuletzt von der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Tel Aviv. In der israelischen Stadt wurde außerdem ein nach Reich-Ranicki benannter Lehrstuhl für deutsche Literatur eingerichtet.
Mit seiner um wenige Monate älteren Frau „Tosia“, die ihren Mann im Warschauer Ghetto kennenlernte, war „MRR“ rund sieben Jahrzehnte verheiratet. Das Paar lebte seit mehr als 30 Jahren in Frankfurt. Der Tod seiner Frau im April 2011 war ein schwerer Schlag für Reich-Ranicki. Der einzige Sohn des Paares Andrew lehrt Mathematik an der Universität Edinburgh in Schottland.