Melancholie der Vorstadt - Judith Hermanns erster Roman

Berlin (dpa) - Nach „Sommerhaus, später“ kamen Ruhm, Preise und ein Platz in der Literaturgeschichte.

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Die Berlinerin Judith Hermann (44) war eine der jungen deutschen Schriftstellerinnen, die das Feuilleton in den 90er Jahren unter „Fräuleinwunder“ verbuchte, ein gönnerhaftes Etikett. Dabei kann sie einfach nur richtig gute Kurzgeschichten schreiben. Jetzt ist ihr erster Roman erschienen.

Hermanns Debüt von 1998 verkaufte sich laut Verlag 500 000 Mal. Danach folgte der Prosaband „Nichts als Gespenster“ (2003), der fürs Kino verfilmt wurde, und „Alice“ (2009), Geschichten über das Sterben, die über die Titelfigur verknüpft sind.

Wie nur wenige deutsche Autoren ist Judith Hermann mit Short Stories erfolgreich, die an amerikanische Minimalisten wie Raymond Carver oder Bobby Ann Mason erinnern. Ihr Stalker-Roman „Aller Liebe Anfang“ erinnert vom Ton an die Kurzgeschichten. Die Sätze sind kurz, aber nicht monoton, die Figuren und Szenen kristallklar. Hermann schreibt die Sätze immer wieder ab, liest sie vor, bis sie den Klang mag. Fragezeichen sind oft bewusst weggelassen, ihre Figuren tragen nur Vornamen.

Was an der Geschichte autobiografisch sein mag? Am Anfang war jedenfalls nicht ein Stalker die Romanidee. Möglicherweise war prägend, dass sie wegen eines Sanierungsprogramm nach 20 Jahren aus ihrem Haus im Prenzlauer Berg ausziehen musste, wie Hermann der „Berliner Zeitung“ erzählte.

Vordergründig geht es um Stella, die Mutter eines kleinen Mädchens, die in einer namenlosen Siedlung von einem Mann verfolgt und terrorisiert wird. Eigentlich Krimistoff. Aber der Stalker steht für etwas anderes: wie schnell kann sich das Leben ändern, wie zerbrechlich ist Glück.

Das ahnt der Leser schnell. Wie im Tarnmantel huscht er im Buch durch das Haus, als stiller Beobachter: „Die Uhr auf dem Fensterbrett tickt spitz in diese Stille hinein. Auf dem Gästebett ist Geschenkpapier ausgebreitet, liegen fotokopierte Wochenpläne für Stellas Arbeit, Blusen, die gebügelt werden müssen. Das Schiebefenster steht offen. Der Wind geht ins Schreibpapier, weht die Seiten auseinander.“ Deutlich wird: Bald passiert etwas.

Stella ist Krankenpflegerin, deren Patienten liebevoll gezeichnet sind. Die grantige Esther lässt Hermann zum Beispiel zur Pflegerin sagen: „Wo sind Sie mit Ihren Gedanken, ziehen Sie nicht immer die Augenbrauen zusammen, Sie werden im Alter aussehen wie ein böser Papagei.“ Jason, Stellas Mann, ist Handwerker und oft nicht zu Hause, ein Typ, der mit seiner Frau am besten beim Autofahren reden kann. Stellas Leben fühlt sich nicht richtig an. Der Ort hat etwas Lähmendes, ist eine „Zeitschleife“.

Ein unauffälliger junger Mann, der sich Mister Pfister nennt, steht eines Tages an Stellas Tür und klingelt. Der Terror und das Nachstellen beginnen. Lange unternimmt Stella nichts. Eine düstere Geschichte entfaltet sich auf den knapp 220 Seiten. Nicht rasant wie ein Krimi, der Schrecken ist subtil. Pfister, „das verdammte Gespenst“, bringt Stellas Leben aus den Fugen. Soll sie ihn zur Rede stellen? Wird dann alles gut?

Das Ende ist schwebend, vielleicht kommt wieder „Aller Liebe Anfang“ wie zu Beginn des Buchs. Im Haus bleiben die Bleistiftzeichnungen zurück, die zeigen, wie die kleine Tochter Ada gewachsen ist. Beim Leser bleibt das Gefühl, den Kosmos einer jungen Frau und die stille Melancholie, die in der Vorstadt wohnt, kennengelernt zu haben. Wer am Rande von Berlin, Dresden oder Hamburg eine Frau beim Tee im Lesesessel hinter einem Panorama-Fenster sieht, wird an Stella denken.

Judith Hermann, Aller Liebe Anfang, S. Fischer, Frankfurt; 219 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-10-402492-9