Siegfried Lenz: Lebensspuren in Marbacher Unterwelt
Marbach am Neckar (dpa) - Schwarzer Mantel, heller Schal, Baskenmütze, darunter schlohweißes Haar. Siegfried Lenz kommt im Rollstuhl, aber seine blauen Augen strahlen an diesem Samstagnachmittag auf der Schillerhöhe in Marbach große Freude und eine tiefe Zufriedenheit aus.
Der 88-Jährige hat sich festgelegt: Hier im Deutschen Literaturarchiv (DLA) soll sein persönliches Archiv einen Platz finden - an der Seite all der anderen großen deutschen Schriftsteller.
„Herzlich willkommen in der Marbacher Unterwelt.“ Mit diesen Worten begrüßt DLA-Direktor Ulrich Raulff den Jahrhundertautor, etwa des Weltromans „Deutschstunde“ (1968), in den Katakomben des Archivs. Dort, wo demnächst auch Lenz' privates Archiv verwahrt und der Forschung geöffnet wird. Bescheiden, wie er ist, spricht Lenz selbst nur „von allem, was sich in den Jahrzehnten auf, neben und unter meinem Schreibtisch angesammelt hat“.
Einen Übergabetermin gibt es zwar noch nicht. Lenz ist aber mit seiner Entscheidung im Reinen: Hier spüre er „enormen Sachverstand“. Er bewundere „die Leidenschaft aller an diesem Projekt Beteiligten“. Und auch Raulff ist seine Zufriedenheit anzusehen: „Das ist ein Tag der großen Freude.“ Lenz ahne nicht, „was dieser Tag für uns bedeutet“. Marbach wünsche sich seit Jahrzehnten, seine Manuskripte und Briefe aufnehmen zu dürfen.
„Ich bekenne, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen“, beschrieb Lenz einmal sein dichterisches Credo. Er gehört in eine Riege mit Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser. Seine Bücher sind in einer Weltauflage von mehr als 25 Millionen Exemplaren erschienen. Die Erzählungen des Autors prägten Generationen.
Und heute sitzt er da, zwischen Regalen mit unzähligen Kisten und Kartons, und freut sich wie ein Kind über alte Karten und Briefe, die schon auf anderem Wege nach Marbach gefunden haben. Wie Unterlagen seines Literaturprofessors Hans Wolffheim (1904-1973), der ihn prägte. „Er nahm mich an die Hand“, erzählt Lenz. Nicht nur um die Themen, sondern auch um die Kleidung und das Essen seiner Studenten habe er sich gekümmert. Er besorgte Lenz auch seinen ersten Job. Beim Hamburger Sender habe er ihn mit den Worten abgegeben: „Nehmt euch dieses Jungen an, vielleicht wird mal was aus ihm.“ Lenz erzählt das mit seinem so typischen verschmitzten Lächeln.
Er begegnet hier in Marbach auch Briefen, die er einst an Marcel Reich-Ranicki schrieb. „Die Briefe sind hier. Großartig. Hat er sie rezensiert?“ Archivchef Ulrich von Bülow kann ihn beruhigen: Hat er nicht. „Er hat Ihre Briefe in Ehren gehalten.“
Auch private Karten, die Lenz einst an andere Autoren schrieb, sind schon im Archiv, viele mit Schiffen drauf. Es sei einfach „eine Wonne, eine Freude, an Bord eines solchen Schiffes zu sein“, sagt Lenz. Er freue sich, Spuren seines Lebens wiederzusehen. Und lacht über gleich mehrere Briefe, in denen er seinen berühmtesten Roman „Deutschstunde“ als „Schinken“ bezeichnete, der ihn viel zu lange von anderen Erzählungen abgehalten habe. Marbach mache ihn an diesem Tag mit allem „unglaublich glücklich“, sagt Lenz - „und wenn es nur ein Brief ist, in dem ich mich über eine gewisse Zubereitung von Dorsch kundig mache“.