Sven Regeners Roman „Wiener Strasse“: Alleine vor dem Spiegel in Berlin

Sven Regeners neuer Roman „Wiener Strasse“ ist eine romantische Verklärung der Achtziger Jahre in West-Berlin.

Sven Regener beschreibt die Zeit, in der Berlin als Nicht-Hauptstadt noch weit entfernt von der Restwelt war.

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Düsseldorf. Wenn man sich überlegt, ob man sich „Wiener Straße“, den neuen Roman von Sven Regener, zu Gemüte führen möchte, dann sollte man doch einfach mal den ersten Satz in einem unentdeckten Moment in einer Buchhandlung seiner Wahl lesen. Gut, ein wenig Zeit muss man mitbringen, immerhin ist diese Einheit 85 breite Zeilen lang. Aber dann kommt erstens ein Punkt und zweitens die Erkenntnis, die entscheidend ist und mindestens geteilt sein kann: Nein! Oder: Ja, genau mein Ding.

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Geht es nach dem Musikanten und Schriftsteller Sven Regener, wäre ihm die zweite Antwort lieber, immerhin ist Regener auch ein Autor, der nach Anerkennung und Erfolg strebt, selbst wenn seine bisherigen Erfolge auch das Ergebnis einer Darstellung von eher erschreckend uneitlen Protagonisten ist. Die einer Art von underground-poppiger Heimatliteratur entsprungen sind.

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Abgefahrene Typen sind das, die P. Immel oder H.R. Ledigt heißen und Künstler sind, weil sie das, was Kunst ist, seit jeher folgendermaßen interpretieren: „Kunst ist, wenn einer sagt, dass es Kunst ist. Im Zweifel ich. Und dann muss ich noch mindestens einen finden, der mir das glaubt. Dann ist es Kunst.“ Ein wahrhaftiges Erfolgsrezept.

Was genau dann aber Kunst an der Kunst sein soll, darüber können sich auch die anderen Typen aus dem Leben wie der bei Regener stets wiederkehrende Frank Lehmann (dieses Mal zeitlich weit vor der Mauerfall-Zeit aus „Herr Lehmann“ und gleich nach der Phase aus dem Werk von 2008, „Der kleine Bruder“), Karl Schmidt oder Erwin Kächele und seine Nichte Chrissie trefflich streiten. Diese Annäherung, dass Kunst ja eigentlich nur im Auge des Betrachters existiert, ist der Ursprung von nie endenden Gedankenketten. Und es ist wunderbar, Regener darüber über seine Figuren in einer ausufernden Plauderei sinnieren zu lassen. Auch, weil genau das abbildet, wie sehr das subventionierte West-Berlin sich in den 80er-Jahren in seiner Faulheit immerfort selbst gespiegelt hat, um nur nie etwas anderes sehen zu müssen.

Genau das ist der Wesenszug von „Wiener Straße“. Das Drehen um sich selbst und die Erkenntnis, dass es dazu noch mindestens eine Alternative gäbe, die man aber nicht in Betracht zieht, weil man das ja noch nie gemacht hat. Regener würde seine Protagonisten noch sagen lassen: Wo kämen wir denn da auch hin? Es ist der von der Wochenzeitung „Die Zeit“ so bezeichnete „beglückende Geist der Dilettanten von damals“.

Und es ist wie mit Regeners Musik und seiner Kapelle „Element of Crime“: Das muss einem gefallen, und wenn es einem gefällt, wie eben dieser erste Satz über 85 Zeilen, in denen Erwin Kächele darüber nachdenkt, wo er denn nun schon wieder hineingeraten ist mit all jenen und deren „punkfreakverblödeter Dusseligkeit“, dann taucht man ab. Und dann landet man im vor Gräue und Liberalität, die eigentlich nur das Desinteresse an den anderen ist, glitzernden Berlin der 80er. Mit den Charakteren direkt vor Augen.

Missfällt es, dann ist man doch immer noch aufgefangen im Empathie-Kosmos des Autors, der jüngst in der „Aspekte“-Sendung des ZDF dazu nachgiebig und hochrechnend sagte: „In der Kunst ist ja Ablehnung der häufigere Fall. Es reicht ja schon, einen Prozent der Leute zu erwischen, die das gut finden, dann ist ja alles in Butter. Das sind dann ja auch schon wieder 800 000 Menschen.“

Man könnte das ein leicht überdimensioniertes Nischendenken nennen, wobei es dann ja nicht mehr wirklich eine Nische ist und Regener seinen oft formulierten Anspruch aufgeben müsste, den er in Interviews gerne auf sein musikalisches Werk bezieht: „Wir sind ja aus der Zeit gefallen.“ Das ist dann eben nur eine vorgetäuschte Nische — und ganz schön geschickt.

Was „Wiener Straße“ wirklich ist: eine Beschreibung, vielleicht auch eine romantische Verklärung des kreativen Urknalls auf dem Berliner Kreuzberg der frühen 80er mit Künstlern, Hausbesetzern, Freaks, Punks und Alles-frisch-Berlinern. Wo die Mischpoke im Café Einfall sitzt und zusammentrifft mit der Kunstszene — alles nahe der Mauer. „Ein Schmelztiegel der selbsterklärten Widerspenstigen, die es gerne auch mal gemütlich haben“, wie es der Verlag formuliert. Wo sich die „bildende Kunst durch die Punkszene entakademisiert hat“, wie Regener das selbst bezeichnet — und das am besten im Galerienamen „ArschArt“ zusammenbringt.

Wunderbar auch der Dialog darüber, ob man auf einer Vernissage Weißwein mit Schraubverschluss anbieten könne. Ein Wagnis seinerzeit, vielleicht auch noch heute. Aber auch eine Nichtigkeit, die Regener zum Konzept erhoben hat, mit dem sich Bücher füllen lassen. Sehr lesenswert sogar.