„OBI oder das Streben nach Glück" Vorgartenidylle: Widerstand aus dem Baumarkt
Karl Bruckmaier ist dem kleinbürgerlichen Pop des Vorgartens nachgegangen. Und hat in Bayern eine Welt gefunden, die überall ist.
Düsseldorf. „Geranien sehen aus wie Kartoffelkraut, hängen über jeden zweiten Balkon in ihrem fetten Wohlstandsgrün, und das Rot ihrer Blüten ist so banal wie eine halbe Stunde Musikanten-stadl“, schreibt der bayerische Journalist Karl Bruckmaier und erinnert sich an eine Autofahrt durch seine Heimat vor 20 Jahren. Mit an Bord: eine ältere Dame. „Da in Niederbayern, da hat sich schon was getan in den letzten Jahren“, krakeelt die Oberbayerin in das Gefährt hinein und schiebt den Grund nach: „Die haben jetzt auch schon Geranien.“ Rumms.
Eigentlich ist damit fast alles gesagt. Würde mindestens Bruckmaier finden: Geranien stehen auch für Plastik-Rehkitze im Vorgarten, für Ytong-Steine, für Plastikstühle als Hilfsmittel für Erinnerung neben einem Gedenkkreuz. Diese Geranien stehen auch für neue Holzbänke vom Band neben Christus-Figur und grauem Stromkasten auf gepflastertem Rondell. Bruckmaier schreibt dazu in einem seiner genialen Texte zu allen Bildereignissen: „Bank plus Kreuz plus Stromkasten. Amen.“
Nichts passt zum anderen. Alles gilt ihm und seinem Fotografen Wilfried Petzi in ihrem Bildband „OBI oder das Streben nach Glück“ als Ausdruck einer Baumarkt-Idylle in ländlicher Heimat. Bayern? Tausendfach wird sie sich in dieser Republik wiederfinden. Auch wenn das hier ungesagt bleibt.
„OBI“ — das steht hier nicht allein für jene Baumarktkette, sondern für einen „großflächigen Feldversuch in Sachen Selbstverwirklichung“ einer Region, dem Bruckmaier etwas abgewinnen kann: Dieser Versuch nämlich habe das Potenzial, „den kurzatmigen Innovationszyklen der Metropolen etwas Gelassen-Humanes entgegenzusetzen“. Wohlgemerkt in einer Zeit, in der Städter auf dem Land bei Töpferei und Salat anpflanzen entspannen wollen. Passt.
Als wäre das nicht genug, sich an der vermeintlichen Spießigkeit zu reiben — was in Wahrheit eine Wertung irgendwo zwischen Liebeserklärung, Verteidigungsrede und Spottlied ist —, entdeckt Bruckmaier darin eine gesellschaftspolitische Dimension. Für ihn wird der „wahrhaft aufregende Transformationsprozess der Gesellschaft in den Vorgärten, an den Hauswänden, auf den öffentlichen Plätzen der Provinz sichtbar“. Soll heißen: Das alles ist nicht einfach nur schnöder Kitsch, sondern ein „gereckter Mittelfinger“ der provinziellen Kleinbürgerlichkeit gegen das Geschmacksdiktat der Eliten, die sich breitmachen. Breit machen in Bayern. Breit machen, mental übertragen, aber auch mit ihrer Arroganz. Deshalb, findet Bruckmaier, tauge der Kitsch der Vorgärten, die „wilde Schönheit der Baumarkt-alimentierten Volkskunst, der OBI-Pop“ als Subkultur.
Man muss nur genau hinsehen und abstrahieren können, um ihm in dieser Sicht auf die Dinge zu folgen. Aber das verlangt Kunst ja ohnehin. Vielleicht bekommt man auch eine Ahnung der Dimension, wenn man im nächsten Lidl-Katalog blättert und auf eine künstliche Ruine mit Fenster inklusive Sitzbank, 2,63 Meter breit und 2,95 Meter hoch, in Grau oder Muschelkalk stößt: „Der perfekte Sitzplatz mit antikem Flair“ schreibt dazu der Discounter-Marketing-Dienstleister. Und wird sich früher oder später in der Fortsetzung bei Bruckmaier wiederfinden: Als Anstifter des Widerstandes gegen die Eliten. Irgendwo in den Welten, in denen alte Ackergeräte mit FC Bayern-Fahnen kombinieren. Schöne Welten. Wie Geranien vom Balkon.