Utopien und Illusionen „Was wollt ihr denn von mir?“ - Christa Wolfs Briefe
Berlin (dpa) - „Gehen oder bleiben“ wurde für Christa Wolf spätestens seit ihrem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns vor 40 Jahren im November 1976 eine zentrale Gewissens- und sogar Lebensfrage.
Sie zahlte, auch nach dem Fall der Mauer noch, einen hohen Preis für ihr Bleiben und wusste auch, dass die Opposition von innen gegen „die da oben“ keine Chance mehr hat. Sogar Gedanken an Suizid kommen auf. „Manchmal frage ich mich, ob ich es meinen Kindern und Enkelkindern nicht schuldig bin, sie hier wegzubringen. Denn Unvorhersehbares ist hier doch oft Schreckliches. Jede Krise würde uns, dann auch sie, zu ihren Opfern zählen.“
Wolf glaubte auch, dass es Listen gab mit Leuten, die im Krisenfall in Lager zu bringen sind und vermerkt in den 80er Jahren, sie habe nicht einmal „durch die Beschaffung eines schmerzlos tötenden Medikaments vorgesorgt“. Das schrieb Wolf 1984 in einem vermutlich nie abgeschickten Briefentwurf an die Frau des russischen Dissidenten Lew Kopelew.
Fast 500 Briefe und Entwürfe sind jetzt in einem über 1000 Seiten umfassenden Band veröffentlicht worden, den Sabine Wolf (nicht verwandt) zum fünften Todestag der Autorin (1. Dezember) herausgegeben hat. Sie ist die Leiterin des Literaturarchivs der Berliner Akademie der Künste, die den Nachlass der Schriftstellerin („Der geteilte Himmel“) betreut („Christa Wolf. Briefe 1952-2011. Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“, Suhrkamp Verlag).
Bisher gab es nur einige Briefwechselbände mit bestimmten Briefpartnern Wolfs wie Brigitte Reimann, Franz Fühmann und Anna Seghers. Besonders verdienstvoll ist jetzt die Recherche-Kleinarbeit der Herausgeberin bei den präzisen Anmerkungen zu den einzelnen Briefen über Personen, Hintergründe und Zusammenhänge, die heute nicht mehr vielen Lesern auf Anhieb so detailliert präsent sein werden, denn Wolf schwante schon zu Lebzeiten, daß die Jüngeren sich „immer weniger für unsere Geschichtsblessuren interessieren“ werden.
Die Anmerkungen zu den Briefen mit ihren zahlreichen Detailinformationen stellen schon für sich eine kleine deutsche-deutsche Geschichte dar, vor allem natürlich auch Literaturgeschichte. Der ganze Band ist ein kleiner Epochen- und Briefroman über Utopien, Illusionen, Missverständnisse, Enttäuschungen und Bemühungen um ein „neues Deutschland“ nach 1945, an dem Wolf im Osten Deutschlands mitwirken wollte.
Wie das im Kulturleben der DDR ablief, schildert die Schriftstellerin („Kassandra“, „Nachdenken über Christa T.“) in ihren Briefen an Kollegen, andere Prominente und einfache Leser (denen sie immer antwortete) bis hin zu ihrer Desillusionierung, die eigentlich schon mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 begann und mit der Biermann-Ausbürgerung 1976 ihren dramatischen Höhepunkt erreichte („Es wird so leer, man fängt an zu frieren“).
Spätestens seit ihrem offenen Protest gegen diese Biermann-Ausbürgerung, den sie zusammen mit anderen Kollegen wie Stefan Heym, Volker Braun, Heiner Müller, Sarah Kirsch und Stephan Hermlin unterzeichnet hatte, ist Wolf immer stärker im Visier der Stasi, mit der sie selbst in jungen Jahren mal kurzzeitig zusammengearbeitet hatte - „das sind Sachen, die ich vergessen habe und die ich mir schwer verzeihen kann“.
Die Drangsalierungen und Behinderungen gegen sie nehmen seit 1976 zu, die Wolf wie die ganze politische Entwicklung in der Endphase der DDR in Depressionen stürzen und zunehmend auch körperliche Schmerzen verstärken. Krankenhausaufenthalte und Operationen nehmen zu. Sie weiß aber auch, daß viele andere und nicht prominente Oppositionelle, für die sie sich einsetzt, wo immer sie kann, bis hin zu Briefen an den „Genossen Erich Honecker“, den sie duzt (Genossen duzen sich), viel schlimmer dran sind.
Sie bleibt, obwohl sie später die Punkte findet, „wo ich mir, von heute aus gesehen, wünschte, radikaler, konsequenter gehandelt zu haben“. Aber „ich musste in diesem Land bleiben“. Sie will sich aber auch nicht erpressen lassen und findet neue Kräfte. „Was wollt ihr denn von mir?...Ich habe gekämpft, da habt ihr alle den Kopf eingezogen“, schreibt sie in einem Briefentwurf an Hermann Kant, ihren Kollegen, Widerpart und einflussreichen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes, den sie nach eigenem Bekunden seit 1976 nicht mehr lesen kann und von dem man sich fragen müsse, wie sie 1991 in einem Brief an Günter de Bruyn meint, „ob er nicht vielleicht ein pathologischer Lügner ist“. Kant starb im vergangenen August im Alter von 90 Jahren.
In einem allerdings nicht abgeschickten Briefentwurf vom Februar 1977 erklärt Wolf ihren Austritt aus der SED („Ich kann nicht weiter schweigen, ohne meine Selbstachtung zu verlieren“), den sie dann erst im Sommer des sich anbahnenden DDR-Zusammenbruchs 1989 tatsächlich vollzieht, wie die Herausgeberin in einer ihrer zahlreichen Anmerkungen dokumentiert. Günter Grass meinte zu ihr, sie hätte die Kritik an der Partei deutlicher aussprechen sollen. „Ich habe sie sehr deutlich ausgesprochen, Günter, und nach 1976 erklärt, daß ich ausgeschlossen werden will“, antwortete sie ihm 1993. „Ich habe das nicht in die westlichen Medien gegeben, das stimmt“, einfach deshalb, „weil wir uns entschlossen hatten, in der DDR zu bleiben und dort zu wirken“.
Wolf rührt da an einen zentralen Punkt ihrer „DDR-Tragödie“. Ihre Loyalität zum kommunistischen/sozialistischen Deutschland wurde zwar unendlich strapaziert, hatte aber aus ihrer Sicht eigentlich keine Alternative. Wo sollte sie hingehen? „Drüben würde ich mein Thema verlieren, ich bin zu alt, ein neues zu gewinnen“, schreibt sie 1984. Nur sehr wenigen Autoren aus der DDR sei das gelungen, „nur solchen, die sehr früh weggingen“ wie Uwe Johnson, und welchen Preis habe er dafür bezahlt.
Für Wolf kam noch etwas Entscheidendes hinzu, das ihr das Verbleiben in der DDR wenigstens erträglich machte - ihre Privilegien als in Ost und West berühmte Schriftstellerin mit Reisemöglichkeiten bis in die USA und gemeinsamen Essen mit Stephan Hermlin in Pariser Restaurants. Alles Dinge, wovon der normale DDR-Bürger nur träumen konnte. Und ohne den Zugang zur westlichen Literatur „hätte ich hier sicher nicht weiter leben können“, wie sie 1991 in einem Brief an Jürgen Habermas bekennt.
Aber ist das nicht ein allgemeines Bürgerrecht, fragt sich der Leser dabei auch. Wieso bestimmt eine Partei, was man lesen darf? Für die massive Einschränkung solcher und anderer Grundrechte und Deformationen der Gesellschaft macht Wolf auch die Stasi verantwortlich, „ein mit Recht tief diskriminiertes System“, das verantwortlich sei „für die Zerstörung der gesellschaftlichen Kommunikation von der Wurzel her“.
Die Briefe Wolfs über mehr als ein halbes Jahrhundert sind ein erstaunliches Dokument eines deutschen Lebens mit all seinen Kämpfen, Zweifeln, Erfolgen, Niederlagen, Rechtfertigungen, Selbstbehauptungen und Mut. Die Briefe geben beredt Auskunft über eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Über unsere Zeit wird es später mal keine Briefliteratur geben, weil keiner mehr Briefe schreibt“, meint Wolf einmal. Im Nachlass sind noch ihre Tagebücher, die Christa Wolf fast ein Leben lang geschrieben hat. Über ihre Veröffentlichung gibt es laut Verlag noch keine Pläne. Es sei zwar nicht alles aussprechbar, meinte die Schriftstellerin einmal, aber „daß man sich selbst möglichst viel sagen sollte, denke ich allerdings“.
Christa Wolf. Briefe 1952-2011. Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1040 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-518-42573-2