Aufwühlend: Milo Rau beendet Europa-Trilogie
Berlin (dpa) - Vier Schauspieler sitzen in einer kleinen Küche und erzählen ihr Leben. Das ist eigentlich alles, was in Milo Raus neuem Stück „Empire“ passiert.
Aber der 39-jährige Schweizer Regisseur, derzeit wohl der wichtigste und spannendste Vertreter des dokumentarischen Theaters, verdichtet die sehr persönlichen Geschichten seiner Schauspieler zum politischen Porträt eines vielfach zerrissenen Kontinents.
Es geht um Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, Krieg und Folter, Tod und Neubeginn - ein leiser Theaterabend voll Wucht und subversiver Kraft. Auch wenn sich am Schluss das Klatschen fast verbietet, gab es am Donnerstagabend bei der Deutschlandpremiere in der Berliner Schaubühne viel Applaus.
„Empire“ ist der Abschluss von Raus vielfach ausgezeichneter Europa-Trilogie. Herausragend in dem Zwei-Stunden-Stück vor allem Maia Morgenstern (54), Leiterin des Jüdischen Theaters in Bukarest, die als Muttergottes in Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“ bekannt wurde. Mit leiser Stimme, mehr noch mit ihrem berührend lebenserfahrenen Gesicht erzählt sie von den Schrecken, die ihre jüdische Familie unter den Nazis und sie in der Ceaușescu-Diktatur erlebt hat.
Zusammen mit dem griechischen Schauspieler Akillas Karazissis steht sie für das alte, bis in die griechische Mythologie verwurzelte Europa. Die beiden syrischen Schauspieler Ramo Ali und Rami Khalaf, beide aus der Heimat geflüchtet, bringen die aktuelle Realität von Migration und Entwurzelung ein. Der eine verbrachte mehrere Monate in Assads Foltergefängnissen, der andere hat auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder tausende Fotos ermordeter Opfer des syrischen Regimes durchforstet, Seelenfolter.
All das erzählen die Schauspieler ruhig, schlicht, fast trocken, aber immer wieder mit wunderbarem Humor. Sie sprechen dabei den Zuschauer nicht direkt an, sondern in eine Videokamera, die ihre Gesichter in Nahaufnahme auf eine große Leinwand über der Küche projiziert. Dazwischen gibt es Szenen von der Recherche-Reise, die das Team in die Krisenregion zwischen Syrien und dem Irak machte, alte Familienfotos, Erinnerungsstücke, einen wirkmächtigen Auftritt der Kindermörderin Medea - und, ja, auch das mutet Rau dem Zuschauer zu - Großaufnahmen von syrischen Folteropfern.
„Was mich interessiert, ist die Frage nach den unterirdischen Strömen der Geschichte, die die Menschheit jenseits ihres wachen Wissens durchqueren“, sagt der Theatermann. Wie in den beiden ersten Teilen „The Civil Wars“ (2014) und „The Dark Ages“ (2015) ist es ein recht pessimistisches Bild, das er von diesem Europa zeichnet, wenn auch auf unterhaltsame und oft selbstironische Art. Eine Erlösung gibt es am Schluss nicht. Die letzten Worte heißen: „Und dann? Dann beginnt die Tragödie.“
Seine Uraufführung hatte das Stück am 1. September beim Zürcher Theater Spektakel. Nach der Station in Berlin ist es im Oktober beim Steirischen Herbst Festival in Graz zu sehen. Gleichzeitig ist „Die Europa Trilogie“ beim Verbrecher Verlag in einer deutsch-englischen Buchausgabe erschienen.