„Die Fremden“: Musiktheater-Experiment in Kohlenhalle uraufgeführt
Marl (dpa) - Einen fremden Ort hat Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons für seine Inszenierung von „Die Fremden“ wahrlich gefunden: Eine erst vor ein paar Monaten stillgelegte - Achtung, wir sind im Ruhrgebiet - „Rohkohlenmischanlage“ in Marl.
Ein unwirtlicher Ort mit echtem Steinkohlenstaub und liegengebliebenen Schottersteinen auf dem Boden und einem bedrohlich wirkenden Apparat auf Schienen, dem „Rücklader“, der für die richtige Mischung der Kohlen verantwortlich war. Freitagabend war Uraufführung der „Musiktheaterkreation“.
Das Publikum war begeistert, nachdenklich und vielleicht auch ein bisschen erschöpft: 100 Minuten ohne Pause Musik, Theater und Film - in einem Industriedenkmal. Wohin zuerst gucken? Unter den 1200 Zuschauern auf der extra aufgebauten Tribüne war auch Bundespräsident Joachim Gauck mit Lebensgefährtin Daniela Schadt.
„Die Fremden“ basiert auf dem Bestseller-Roman „Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung“ des algerischen Autors Kamel Daoud. Das Buch wiederum ist eine Art Fortschreibung des Weltliteratur-Klassikers „Der Fremde“ von Albert Camus (1913-1960).
Daoud erzählt in seinem 2013 erschienenen Buch die Geschichte des namenlosen Arabers aus dem Camus'schen Werk - und gibt ihm einen Namen: Moussa. Erzähler der Geschichte von Moussa vor dem Hintergrund der Befreiung von der französischen Herrschaft ist Haroun, dessen Bruder. „Ich dachte immer schon, dass irgendwann ein Algerier eine Antwort darauf schreiben muss, dass da ein Algerier am Strand abgeknallt wird und immer nur "ein Araber" ist, ohne Geschichte, ohne Namen“, sagte Daoud jüngst der „Süddeutschen Zeitung“. Daoud selbst war nach Marl gekommen. Die Aufführung habe ihn sehr bewegt, sagte er hinterher.
Simons, erst am Donnerstag 70 geworden, lässt Haroun von fünf Personen darstellen, von Männern und Frauen aus mehreren Nationen. Simons wollte, dass sein Stück „eine universelle Kraft bekommt und nicht folkloristisch wirkt“, wie er neulich der „Welt am Sonntag“ sagte. Die fünf Schauspieler sind Pierre Bokma, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Risto Kübar und Sandra Hüller, die zuletzt im Film „Toni Erdmann“ glänzte, der im kommenden Jahr einen Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film holen soll. Drei von ihnen nehmen während der Aufführung auch andere Rollen ein.
„Die Fremden“ umfasst 30 Szenen. Simons verschont seine Zuschauer nicht und springt munter zwischen Camus und Daoud hin und her - und spiegelt damit auch die Vielschichtigkeit des Daoudschen Romans wider. „Dies ist keine normale Geschichte. Es ist eine Geschichte, die man vom Ende ausgehend beschreiben sollte, um dann an ihren Anfang zurückzugehen“, sagt Haroun einmal.
Für Simons ist Daouds Roman „ein hervorragender Kommentar zur sogenannten Flüchtlingskrise“, wie er der „Süddeutschen Zeitung“ sagte. Aber auch die Religionskritik ist Simons wichtig. Es sei auch ein Stück darüber, „wie die Religion einen ersticken kann, ob man nun Christ oder Muslim ist“.
Vor allem im zweiten Teil wird etwa durch die Filminstallation des niederländischen Filmkünstlers Aernout Mik deutlich, um was es Simons geht: Der Regisseur will vor dem Hintergrund von Flucht und Integration Fragen nach der kulturellen Identität stellen. „Wie schwierig ist es, die Perspektive des anderen einzunehmen?“ lautet so eine Leitfrage.
Sind im ersten Teil zum Teil drastische dokumentarische Filmbilder aus dem algerischen Befreiungskrieg zu sehen, bringt der zweite Teil Szenen, die aus einer Notunterkunft für Flüchtlinge stammen könnten. Doch schnell wird klar: Es sind „normale“ Deutsche, die auf Feldbetten liegen, in langen Schlangen vor Registrierungstischen stehen und von ausländisch aussehenden Polizisten bewacht werden. Gedreht hat Mik die Szenen in eben jener Kohlenmischhalle.
Und die Musik? Ist mitunter düster, schrill und dunkel. Und nimmt eine zentrale Position ein: Das niederländische Ensemble Akso/Schönberg unter der Leitung von Reinbert de Leeuw sitzt gut zu sehen und zu hören vor der Tribüne. Werke von Mauricio Kagel, György Ligeti fassen die Orientierungslosigkeit und Verzweiflung in Töne.
Höhepunkt ist der Mittelteil der Aufführung: Zwölf Minuten dauert die in einer Fantasiesprache von Sopranistin Katrin Baerts ausdrucksstark gesungene Komposition „Bouchara“ von Claude Vivier. „Es handelt von Liebe, von der Konfrontation mit dem Fremden, mit einer Welt außer dir“, verrät de Leeuw im Programmheft.
Während dieser zwölf Minuten fährt der Rücklader langsam in den hinteren Teil der 245 Meter langen Halle. Es wird dunkler. Nur das 15-köpfige Orchester und die Sopranistin sind noch zu sehen. Plötzlich geht hinter der Maschine ein helles Licht an. Das Bild erinnert an einen Science-Fiction-Film: Die lebendige, unheilvolle Maschine zieht sich zurück. Gut, dass sie hinten stehen bleibt.