Ballett ohne Regisseur Bolschoi zeigt Serebrennikows „Nurejew“
Moskau (dpa) - Am Bolschoi-Theater in Moskau wirbt kein glänzendes Plakat für die umstrittenste Premiere der Saison. Nur ein schwarzes Banner mit dem Schriftzug „Nurejew“ hängt an der Fassade - wie ein Leichentuch über ein kulturpolitisches Ärgernis.
Russlands größtes Musiktheater zeigt das Ballett des kremlkritischen Regisseurs Kirill Serebrennikow im zweiten Anlauf. Im Juli war die Uraufführung aus undurchsichtigen Gründen abgesagt worden. Fertigstellen konnte der Künstler die getanzte Biografie des russischen Ballettstars Rudolf Nurejew (1938-93) nicht: Serebrennikow steht unter Hausarrest, die Justiz bezichtigt ihn der Unterschlagung.
Viele hätten vermutet, das Stück werde nie auf die Bühne kommen, sagt Bolschoi-Generaldirektor Wladimir Urin: „Nun findet am Samstag und Sonntag die Premiere statt.“ Nach viel Spekulation und Streit solle „Nurejew“ jetzt nach dem künstlerischen Wert beurteilt werden.
Also: Dem Eindruck aus der Generalprobe nach ist Serebrennikow, dem Choreografen Juri Possochow und dem Komponisten Ilja Demuzki ein bildstarkes, vielschichtiges Künstlerporträt gelungen - eine Studie über Kunst, Freiheit und Selbstverwirklichung.
Bei der Absage im Juli hatte Urin erklärt, das komplizierte Werk sei nicht bühnenreif gewesen. Die Moskauer Theaterwelt vermutete indes politischen Druck. Nurejew emigrierte nicht nur aus der Sowjetunion, er war homosexuell. Und Serebrennikow bringt auch diese Seite seines Helden auf die Bühne. Im Februar hatte er in Stuttgart erzählt, dass neuerdings seine Homosexualität Thema in Russland sei. Das bereitete ihm Sorgen - auch weil Schwule und Lesben dort massiv ausgegrenzt werden.
Offen schwul zu leben steht quer zur herrschenden Stimmung in Russland, das unter Präsident Wladimir Putin auf Patriotismus, konservative Moral und Orthodoxie setzt. Kulturminister Wladimir Medinski, der zu dieser Richtung zählt, ließ wissen, er komme nicht zur Premiere. Nun, manche Szenen mögen Konservativen nicht passen, doch es ist nichts Geschmackloses an ihnen.
Die Behörden hatten im Juli schon ihre juristische Jagd auf Serebrennikow eröffnet. Sie halten ihm vor, er habe über seine private Produktionsfirma 68 Millionen Rubel (etwa eine Million Euro) Subventionen für ein Theaterprojekt unterschlagen. Im August wurde er festgenommen und unter Hausarrest gestellt - ein einschüchterndes Signal für die ganze russische Kulturszene.
Serebrennikow nennt die Vorwürfe konstruiert. Zur Premiere legte Russlands oberster Strafermittler Alexander Bastrykin in der Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ mit angeblichen Details nach: Der Regisseur habe mit dem Geld eine Wohnung in Deutschland, Autos und Schmuck gekauft. Verteidiger Dmitri Charitonow sagte, die Käufe hätten 2011 vor dem staatsfinanzierten Theaterprojekt stattgefunden.
An der Oper Stuttgart hatte im Oktober die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ Premiere, eine Inszenierung, die Serebrennikow begonnen, aber nicht fertiggestellt hatte. Die Aufführung machte die Brüche, das Unfertige sichtbar und war eine Demonstration der Solidarität mit dem eingesperrten Künstler. „Nurejew“ ist nun die zweite Inszenierung, die in seinem Namen gezeigt wird, und bei der man doch nicht weiß, ob sie dem künstlerischen Willen des Regisseurs vollständig entspricht.
Die Staatsanwaltschaft habe die Anträge abgelehnt, dass Serebrennikow die Proben am Bolschoi besuchen darf, sagte Anwalt Charitonow. Das Theater scheint aber einen Draht zum Regisseur gehalten zu haben. „Wir sehen ihn jetzt nicht, wir spüren ihn nicht. Aber wir wissen, dass er auf dem Laufenden ist“, sagte der Tänzer Wladislaw Lanstratow.
Erzählt wird Nurejews Lebensweg: Lehrjahre in Leningrad (heute wieder St. Petersburg), Flucht nach Paris, Kampf um Anerkennung, Partnerschaft mit der britischen Tanzlegende Margot Fonteyn, Erfolge auf den großen Ballettbühnen der Welt. Zu vorgelesenen Briefen an Nurejew tanzt die frühere Petersburger und Moskauer Primaballerina Swetlana Sacharowa, jetzt in Mailand, ein anrührendes Solo.
Trotzdem wirkt das Theater nervös wegen des Stücks und verbannt es nach der Uraufführung bis Mai wieder vom Spielplan. Es ist, als ob das Bolschoi den Zensurvorwurf widerlegen wolle. Doch dann - Zufall oder nicht - ist Ruhe bis nach dem wichtigsten politischen Ereignis in Russland 2018, der erwarteten Wiederwahl von Wladimir Putin.