Bustour in die Unterwelt mit Rückfahrschein
Hannover (dpa) - Kinder mit leeren Blicken nähen hinter Stacheldraht Turnschuhe, ein nackter Mann versinkt im Müllberg und der König der Unterwelt fläzt sich mit Laptop auf den Knien im Sessel. So sieht die Hölle der globalisierten Welt aus Sicht des südafrikanischen Autors und Regisseurs Brett Bailey aus.
Seine moderne Version von „Orfeus“ feierte am Mittwochabend beim Festival „Theaterformen“ ihre deutsche Erstaufführung. Die Premierenbesucher wurden per Bus mit abgedunkelten Scheiben an einen geheimen Spielort gebracht. Auf einem gespenstischen Gelände mit verlassenen Gebäuden tauchten sie mit Orfeus in die Unterwelt ein.
Der vielfach ausgezeichnete Bailey hat den mehr als 3000 Jahre alten griechischen Mythos mit afrikanischen Ritualen verwoben und ins Heute übersetzt. „Er stellt die Frage: Was will und was kann der Künstler uns sagen angesichts des Elends und der Ungerechtigkeit in der Welt? Das passt gut zum Auftakt eines internationalen Theaterfestivals“, meint „Theaterformen“-Chefin Anja Dirks. Ihr noch bis zum 3. Juli laufendes Festival gehört zu den größten seiner Art im deutschsprachigen Raum. Ein Schwerpunkt in diesem Jahr liegt auf Stücken aus dem Nahen Osten.
Typisch für die „Theaterformen“ ist, dass die Produktionen die ausgetretenen Pfade verlassen und sich auf neues Terrain vorwagen. Von einer Erzählerin werden die Premierenbesucher auf dem Gelände mit den heruntergekommenen Häusertrakten zu einer Feuerstelle gelotst. Die Schauspielerin führt die auf Strohballen sitzenden Zuschauer in die Geschichte von Orfeus und Eurydike ein. Orfeus wirkt wie ein lässiger Popstar à la Jack Johnson, der seine Angebetete mit sanftem Gesang verzaubert.
Ein Vergewaltiger reißt das Liebespaar auseinander. Der Übergriff könnte eine Andeutung sein auf die Verrohung in den Elendsvierteln südafrikanischer Städte. Baileys Theatertruppe „Third World Bunfight“ stammt aus Kapstadt. Der Autor beschreibt die Arbeit an „Orfeus“ als „schmerzhafte und wunderbare Expedition“.
Vielleicht liegt es daran, dass er den Mythos mit seinen starken Bilder für sich sprechen lassen will - leider bleibt alles ein wenig plakativ: etwas Folklore mit afrikanischen Tänzen und Bemalung, etwas Gruseln in den unheimlichen Bunkern, viele Feuerstellen, dazu ein Herrscher der Unterwelt, der mit Frauen, Organen und Edelsteinen handelt.
Müde und erleichtert steigen die Zuschauer nach fast zweistündiger Wanderung durch die inzwischen stockdunkle Unterwelt wieder in die Busse. Jetzt muss jeder nur noch seine wärmende Decke und die Taschenlampe abgeben, dann ist die Höllenfahrt vorbei.