Frank Castorf dreht Horváth durch die Mangel
München (dpa) - Häufiges Urinieren auf verdreckten Toiletten, riesige Puppenköpfe, Nazi-Uniform und ein echtes Pony auf der Bühne - mit Frank Castorfs Version von Ödön von Horváths Klassiker „Kasimir und Karoline“ kann sich nicht jeder anfreunden.
Laute Buhrufe mischten sich mit begeistertem Beifall für den Regisseur. Manch einer aus dem Premierenpublikum am Sonntagabend im Münchner Residenztheater wollte das Ende des fast vierstündigen Spektakels gar nicht abwarten, die ersten Zuschauer verließen das Stück schon vor der Pause. Doch die meisten dankten dem Theaterwüterich mit langem Applaus.
Ungeteilt war die Zustimmung für die Leistung der Schauspieler, angeführt von Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek. Er gibt einen durch alle Stimmungen vom deprimierten Arbeitslosen bis zum wütenden Berserker gehenden Kasimir, der von Minichmayrs naiv-görenhafter, im modernen Jugendslang sprechenden und stets amüsierwilligen Karoline kongenial ergänzt wird. Auch die weiteren Charaktere überzeugten zumeist, teils in bewusst überzogener Klischee-Version ihrer Rolle.
Insgesamt brennt Castorf bei seiner ersten Regiearbeit nach 20 Jahren in München ein Feuerwerk an Ideen und Bezügen ab - manches erscheint aber allzu gewollt. Die Frage etwa, welche Partei er wohl wählen würde, beantwortet Kasimir mit „ich bin Pirat geworden“ gleich selbst. Castorf fügt zudem mehrere langatmige Monologe ein, teils aus Ernst Jüngers Werk „Der Arbeiter“, was vielfach überladen wirkt. Zugleich besticht die Inszenierung aber auch durch Sprachwitz und Andeutungen auf andere Stücke oder politische und gesellschaftliche Realität. Mehrfach bricht das Publikum spontan in Lachen aus.
Der künftige Bayreuther „Ring“-Regisseur und Intendant der Berliner Volksbühne siedelt die Handlung, die eigentlich auf dem Oktoberfest zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise um 1930 spielt, weitgehend vor zwei verdreckten, offenen Toilettenkabinen an, in denen sich die Protagonisten - einzeln und paarweise - immer wieder erleichtern. Auch homosexuelle Bezüge, einen auf der Bühne rotgeprügelten blanken Hintern, das historische Lied der Moorsoldaten, schwappende Bierseidel, Wiesn-Lieder gesungen und vom Band und immer wieder das über die Bühne getragene „hakelige Kreuz“ bringt Castorf in seinem von viel Gebrüll begleiteten Gewaltmarsch durch die Geschichte um die „kleinen Leute“ unter.
Der von Horváth auf die Trennung von Kasimir und Karoline gelegte Fokus - er hat seinen Job verloren, sie will sich gesellschaftlich verbessern - verschwimmt bei Castorf. Stattdessen erfindet er hinzu und bedient sich aus den vom Autor selbst abgelegten Vorkonzeptionen zur Entstehungsgeschichte des Stücks. Der Student Emil etwa, Schwager Jakob und seine Partnerin Rosa, sowie die Eltern Karolines tauchen auf. So haben die Darsteller von Merkl Franz (Shenja Lacher) und dessen Freundin Erna (beeindruckend wandelbar: Bibiana Beglau) gleich einen ganzen Strauß von Rollen. Einem roten Faden folgt das Stück nicht - Castorf verändert Horváths Handlungsabfolge, lässt zwar immer wieder textgetreu Dialoge einfließen, oft aber von anderen gesprochen.
Castorf bedient sich witzig-wirkungsvoll auch des interaktiven Theaters - so setzt Karoline zwischendurch den Schwellkopf einer „Negerpuppe“ in Szene und fragt in den Zuschauerraum „symbolisch genug?“. Vor allem Kasimir spricht oft ins Publikum („hilf mir mal“, „ich sehe 700 ratlose Gesichter“), fordert eine in der ersten Reihe platzierte Souffleuse auf: „lauter, wir wollen das doch nicht kaschieren“ - oder reagiert spontan auf Bemerkungen aus den Reihen.
Es war nach Angaben des Residenztheaters das erste Mal seit 20 Jahren, dass Castorf wieder in München inszenierte, und das erste Mal überhaupt, dass er ein Horváth-Stück in Szene setzte. Er folge dem Ruf des neuen Intendanten und Dieter-Dorn-Nachfolger Martin Kusej. Bereits vor der Premiere hatte Castorf im „Münchner Merkur“ klargestellt: „Ich bin expressiv und gewalttätig, also im Grunde der falsche Regisseur für das Stück.“ Bewusst wich er - gemäß seinem Ruf als Stücke-Zertrümmerer - von der Vorlage des Autors ab: „In seinen Anmerkungen hat Horváth geschrieben, wie er sich sein Stück vorstellt. Gegen die meisten Paragrafen verstoße ich bewusst.“