Ibsens „Borkman“ in Hamburg: Familie im Bunker
Hamburg (dpa) - Verwaschen-grau und schlecht verputzt stehen die Wände, an die Kinderhände vor wohl langer Zeit Fratzen gekritzelt haben. Eine Betontreppe führt durch die Breite des Raums, der vom einem Kerzenleuchter aus materiell besseren Tagen nur wenig erhellt wird.
In diesem bunkerartigen Bau (Bühne: Katrin Nottrodt), der ihrer Schwester und Schwägerin gehört, hausen in Nachtwäsche ein pleitegegangener Bankier und seine verbitterte Ehefrau samt all ihrer Lügen, Illusionen und lieblosen Egoismen. Er oben, sie auf den unteren Stufen. In brutal düsterem Rahmen hat Regisseurin Karin Henkel am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg das Personal von Henrik Ibsens pessimistischem Familiendrama „John Gabriel Borkman“ aus dem Jahr 1896 zu dessen zweifelhaftem Leben erweckt.
Bei der Premiere am Sonntagabend jubelte das Publikum über Henkels Deutung, die alle inneren Verwerfungen heftig überzeichnend nach außen gekehrt und aus dem Klassiker des psychologischen Naturalismus eine grelle Groteske geschaffen hat. Voll leidenschaftlicher Energie wirft sich ein siebenköpfiges Ensemble in seine Rollenfiguren, die oft seltsam lebensnahe Gummigesichtsmasken tragen. Da ist Borkman selbst, dem Josef Ostendorf eine feist-lethargische Gestalt gibt: Aus einfachen Verhältnissen emporgekommen, hat er das Vermögen auch vieler kleiner Anleger veruntreut. Nach fünf Jahren im Gefängnis und acht Jahren Isolation Zuhause zieht er nun - vergeblich - den dunklen Geschäftsanzug wieder an.
Er fühlt sich verkannt, will erneut zu Macht und Geld kommen. Dabei behauptet der Mann mit den Napoleonposen, es gehe ihm allein um „die Macht, andere glücklich zu machen“. Komplizierter ist die Lage bei den Frauen, die mehr und mehr zu furienhaften Showstars der Aufführung mutieren: In Verfremdung biblischer „Kreidekreis“-Manier zerren Gunhild Borkman (Julia Wieninger) und ihre Schwester Ella (Lina Beckmann) bis zum Exzess am Norwegerpullover von Gunhilds Sohn Erhart (Jan-Peter Kampwirth), den die spukhaft-nervöse Ella einst scheinbar aus Güte großgezogen hat. Dabei denken beide nur an sich: Gunhild will, dass Erhart Karriere macht und das Ansehen des Hauses wieder herstellt, Ella braucht einen Altenpfleger und will sich an John rächen, dessen Geliebte sie einst war.
Doch der faule Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dem dauerjuvenilen Erhart ist alles egal — er strebt nur an, was er für sein „Glück“ hält und brennt mit gleich zwei Frauen durch. „Ich bin jung — ich will nicht arbeiten. Leben!“, schreit er seinen Müttern entgegen.
Trotz der Ambivalenzen und Schein-Sein-Thematik im Text ist bei Henkel alles recht eindeutig: Bereits auf den ersten Blick sind diese Familienmitglieder verkommen, der Verlauf der Handlung setzt darauf nur drastisch immer noch einen drauf. Dem Theatergänger bleibt nicht viel zu rätseln. Zum farcenhaften Konzept gehört auch der Einsatz von viel Musik, so intonieren etwa Gunhild und Ella christliche Gesänge, mit denen der bigotte emotionale Zustand im Hause Borkman herausgestellt wird. Henkel hatte im Februar im Malersaal des Schauspielhauses mit Erfolg „Schuld“ nach Dostojewski vorgelegt.