Jelinek zerlegt den Orpheus-Mythos

Karlsruhe (dpa) — Tausendfach erzählt ist die Orpheus-Saga und doch ist nicht alles gesagt: Elfriede Jelinek wagt mit ihrer Komödie „Schatten (Eurydike sagt)“ den Perspektivwechsel und lässt Eurydike, die Gespielin von Orpheus, in der heutigen Zeit zu Wort kommen.

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Jan Philipp Gloger, gefragter Schauspiel- und Opernregisseur, brachte das im Januar 2013 in Wien uraufgeführte Stück nun in Karlsruhe auf die Bühne.

Ursprünglich ist „Orpheus und Eurydike“ eine Tragödie, in welcher der Sänger Orpheus vergeblich versucht, seine verstorbene Geliebte aus der Unterwelt zurückzuholen. In der Interpretation Jelineks ist er vor allem ein egoistischer, selbstverliebter Macho.

Im Wiener Akademietheater hatte der damalige Burgtheater-Intendant Matthias Hartmann die Uraufführung mit gleich sieben Eurydiken inszeniert. Gloger entschied sich für fünf Rollenbesetzungen: Den Rock-Star-Groupie, die Nymphe, die Autorin, die Depressive und die Mode-Kaufsüchtige. Alle fünf Frauen (dargestellt von Veronika Bachfischer, Ute Baggeröhr, Annette Büschelberger, Florentine Krafft und Lisa Schlegel) verkörpern ein Objekt Orpheus'. Anders als in der griechischen Mythologie vermisst Eurydike nach ihrem Tod und Abgang ins Schattenreich ihren Orpheus so gar nicht.

Ganz im Gegenteil: Sie ist froh, endlich nicht mehr nur Orpheus' Schatten sein zu müssen, sondern ihr eigener Schatten sein zu dürfen. „Ich will nicht mal selbst ein eigener Mensch sein“, sagt die vereinsamte, kaufsüchtige Eurydike, während sie ihren Körper unter zwei Mänteln, drei Blusen und einem Hut versteckt (Bühne und Kostüme: Marie Roth).

Jelinek kritisiert damit das gesellschaftliche Verständnis von Weiblichkeit, und doch ist es kein platitüdenhafter feministischer Text. In einer weiteren Szene karikiert sie das dümmliche Benehmen jener Mädchen, die sich nur um ihr Äußeres scheren und sich somit selbst zu Objekten machen. Gloger lässt Bilder von Casting-Shows wie „Germanys Next Topmodel“ laufen und die Schatten der Eurydiken fast schon „femenhaft“, also im Stil der mit vollem Körpereinsatz agierenden Protestbewegung, dagegen angehen.

Der Rockstar-Fan Eurydike singt oder besser schreit „I don't wanna miss a thing“ von Aerosmith ins Mikro. Mit ausgebeulter Hose macht sie sich über den Schnulzensänger Orpheus lustig. Dieser scheint nach ihrem Tod nur vordergründig zu trauern und erzielt mit seinen trauerverarbeitenden Songs noch Profit. Jelinek greift dabei das Thema Trauer und Melancholie auf. Sie verpasst Sigmund Freud eine Retourkutsche, indem sie zeigt, dass Freuds Deutung der Trauer einer Art Degradierung der verstorbenen Person zum Objekt gleichkommt.

Das Stück begann mit dem Schrei der Eurydike kurz vor ihrem Tod und endete mit der vollkommenen Unkörperlichkeit. Halb nackt wälzen sich die fünf Eurydikes mit den Worten „Endlich flach“ in schwarzer Farbe. Doch die plakative Darstellung der Nacktheit wirkt dem Wunsch nach Unkörperlichkeit eher entgegen. Die Eurydikes sprechen zum Schluss befreit: „Das Größte aber ist, nicht geliebt zu werden und nicht zu lieben. Schatten zu Schatten, ich bin nicht mehr da, ich bin.“