John Neumeier wird 70: Ein Leben für den Tanz
Hamburg (dpa) - Seine Choreografien kennen Ballettfans auf der ganzen Welt: Ob Neuinterpretationen von „Romeo und Julia“, Biografien wie „Nijinsky“ oder „Die dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, mit der seine Compagnie gerade durch China tourte.
John Neumeier, der dienstälteste Ballettchef der Welt, gehört ohne Zweifel zu den renommiertesten Choreografen. Mittlerweile hat der umtriebige Intendant des Hamburg Balletts, der am Freitag (24. Februar) seinen 70. Geburtstag feiert, rund 140 Werke kreiert - ans Aufhören denkt der gebürtige Amerikaner jedoch noch lange nicht. „Ich denke, es liegt daran, dass ich es eigentlich aus Liebe mache“, erklärte Neumeier seine unerschöpfliche Kreativität im dpa-Interview.
Neumeier interessiert der Mensch und seine Beziehungen, er spürt choreografisch dem nach, was mit Worten nicht gesagt werden kann, und möchte der Musik durch den Tanz eine weitere Dimension geben. So schuf er Klassiker-Adaptionen von „Der Nussknacker“, „Dornröschen“ und „Illusionen - wie Schwanensee“, die Menschen zeigen statt Märchenfiguren. Er erschloss dem Ballett mit „Die Kameliendame“, „Sommernachtstraum“ oder „Tod in Venedig“ Weltliteratur und wagte sich mit seinem auf der klassischen Technik basierenden, aber durch moderne Bewegungen aufgebrochenen Vokabular an Kompositionen, die bis dahin als „untanzbar“ galten: Werke von Gustav Mahler, Bachs „Matthäus-Passion“ oder Mozarts „Requiem“.
„Ein Choreograf arbeitet mit dem wichtigsten und kostbarsten Material, das es gibt: dem Menschen“, sagt Neumeier. „Und ich wollte immer, dass dabei etwas herauskommt, das eine emotionale Wahrheit hat. Für mich war es von meinem ersten Stück an wichtig, dass ich Menschen bewege. Auch wenn ich verschiedene Arten von Ballett geschaffen habe und immer wieder andere Bewegungssprachen, ist dieses Hauptziel geblieben: Das, was ich spüre, so zu vermitteln, dass die Menschen berührt sind“, sagt der zurückhaltend und sensibel wirkende Künstler, der sich selbst einmal als „kontrollierten Romantiker“ bezeichnet hat.
Aufgewachsen ist der Kapitänssohn mit einer polnischen Mutter und einem deutschen Großvater in Milwaukee. Als vierjähriger Junge hatte er ein Schlüsselerlebnis, als ihn seine Mutter zu einem Musicalfilm mit ins Kino nahm: „Solange ich mich erinnern kann, wollte ich Tänzer werden. Als wir aus dem Kino nach Hause kamen, wollte ich die Tänze nachmachen. Immer habe ich getanzt“, erinnert er sich in dem Buch „John Neumeier unterwegs“. Seine Eltern konnten das zunächst nicht verstehen, doch er durfte Stepptanzunterricht nehmen. An der katholischen Universität von Milwaukee, wo er englische Literatur und Theaterpraxis studierte, traf er eine Persönlichkeit, die sein Leben tief prägen sollte: Father John Walsh, Lehrer des Jesuitenordens, der ihn in seinem Wunsch, Tänzer zu werden, bestärkte.
Ein erstes Engagement führt ihn 1960 zu Sybil Shearer nach New York, die seine Begeisterung für den Tänzer Waslaw Nijinsky (1889-1950) teilt. 1962 geht Neumeier an die Royal Ballet School nach London und nimmt Ballettunterricht bei der russischen Tänzerin Vera Volkova in Kopenhagen. Nach seiner Rückkehr wird er von Marcia Haydée und Ray Barra entdeckt und nach Stuttgart engagiert, wo John Cranko die Ballettcompagnie der Staatsoper neu formiert. Er unterstützt ihn in seinem Wunsch, selbst zu choreografieren - mit 27 Jahren wird Neumeier in Frankfurt jüngster Ballettdirektor Deutschlands. August Everding, Intendant der Hamburger Staatsoper, der im Ballett einen Neuanfang wagen will, holt den jungen Amerikaner 1973 an die Elbe.
Sein Start in Hamburg beginnt mit einem Skandal. Der 31-Jährige hatte es gewagt, die Verträge von 16 Tänzern nicht zu verlängern, was auf lautstarken Protest stößt. Erst langsam erobert er die Herzen der Hanseaten, die erste Ballett-Werkstatt, eine Art öffentliches Training, habe das Eis gebrochen, erinnert sich Neumeier: „Als ich versuchte, emotional dem Publikum "Klassische Technik in der modernen Choreografie" zu erklären, hatte ich auf einmal meinen Text vergessen, entschuldigte mich, und während ich meine Notizen suchte, wurde ich vom warmen Applaus des Publikums überrascht. Mein Herz ging auf - für das kühle nordische Publikum, vor dem man mich gewarnt hatte.“ Trotz verlockender Angebote hält Neumeier seitdem der Hansestadt die Treue, 2007 wird er als einer der wenigen Künstler überhaupt zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.
„Ich bin so lange in Hamburg geblieben, weil ich immer das Gefühl hatte, in Bewegung zu sein und weiterzukommen“, sagt Neumeier. 1985 handelt er einen neuen Vertrag aus, in dem ihm auch der Umbau einer alten Schule für sein Ballettzentrum mit Internat zugesichert wurde. Im Herbst 1989 bezogen die Compagnie und die 1978 gegründete Ballettschule das „Ballettzentrum Hamburg - John Neumeier“, eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für Ballettnachwuchs weltweit. 2006 gründet Neumeier die in seinem Haus beheimatete und nach ihm benannte Stiftung, 2010 das Bundesjugendballett. Noch nicht erfüllt hat sich sein Wunsch nach einem Ballettmuseum, das seine weltweit einzigartige Sammlung zur Geschichte des Tanzes beherbergen soll.