„Kohlhaas 21“ lässt Fragen offen

Stuttgart (dpa) - Der Titel lässt vermuten, dass die Stuttgarter jetzt selbst bei Heinrich von Kleist nur noch Tiefbahnhof verstehen. In der Uraufführung von „Kohlhaas 21“ am Donnerstagabend im Alten Schauspielhaus tauchen tatsächlich Montagsdemo, Wasserwerfer und ein Bahngleis auf.

Doch Volkmar Kamm hat bei der Inszenierung von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ in einer Welt von Stuttgart 21 dem Original viel Raum gelassen.

Das ursprüngliche Stück erzählt die Geschichte eines Pferdehändlers, dem zwei Rappen gestohlen werden und der daraufhin per Selbstjustiz um Gerechtigkeit kämpft. Kamm lässt immer wieder das 16. auf das 21. Jahrhundert prallen.

Aus einer riesigen, rötlichen Röhre klappt unten eine deckelartige, metallene Plattform. Darauf angekettet: der bärtige Michael Kohlhaas (gut: Ralf Stech), der in Garderobe und Wortwahl stets in der Vergangenheit bleibt. Mit seinem - historischen - Fall soll sich eine Untersuchungskommission der Moderne befassen. Die beiden Anwälte und der Vorsitzende schlüpfen zwischendurch immer wieder in die Rollen der Kleist-Vorlage. So geben Andreas Klaue, Reinhart von Stolzmann und Mirjam Woggon mit viel Liebe zu den Details unter anderem Martin Luther, den Kurfürsten von Sachsen und einen Knecht.

Zahlreiche Lieder unterbrechen die Handlung. Eine Live-Band unter Leitung von Daniel Große Boymann spielt „Ich will ich sein“ von der Band Ton Steine Scherben und andere Protestsongs. Im ersten Akt wirken die Musiker, einige mit Hippie-Band im Haar, allerdings etwas fehlplatziert.

Nachdem sich der erste, eineinhalbstündige Teil trotz der Zeitsprünge phasenweise hinzieht, lebt das Stück im zweiten Akt auf, gewinnt an Fahrt und Komik. Demonstranten mit Berliner Dialekt treffen auf Kohlhaas und den sächsischen Kurfürsten. Die Zeitwechsel erreichen eine Metaebene, als eine Aktivistin Kohlhaas als literarische Figur erkennt. Welten treffen aufeinander - und doch bewegt die Hauptfigur und die Protestler der Neuzeit dieselbe Frage: Wie setzt man sich gegen empfundene Ungerechtigkeit zur Wehr?

Zwar geht es heute nicht mehr um zwei Rappen: Castor-Transporte, Umweltzerstörung und eben Stuttgart 21 treiben Menschen auf die Straße. Überraschenderweise lastet das umstrittene Bahnprojekt nicht auf dem Schauspiel, ist nur am Rande Thema. Zwar habe er zunächst mit dem speziellen Widerstand gegen Stuttgart 21 arbeiten wollen, sagte Kamm den „Stuttgarter Nachrichten“. Das habe sich aber als Sackgasse erwiesen. „Ich bin in unguter Polemik gelandet und auf einer moralischen Belehrungsschiene, die mir nicht gefallen hat.“

Das Stück ist als Beitrag zum Kleist-Jahr 2011 - anlässlich des 200. Todestags des Dichters am 21. November - gedacht. Es soll alte Fragen aufgreifen: Ob ein Mensch Widerstand gegen den Staat leisten darf und welchen Stellenwert Bürgerprotest und ziviler Ungehorsam heute haben. Die Antworten bleiben nach der Premiere allerdings aus. „Ich will nicht schlauer sein als Kleist“, sagt Kamm. „Er hat die Fragen aufgeworfen und nicht beantwortet - und wir auch nicht.“

Dem Premierenpublikum, größtenteils aus einer Generation, die Kleist noch frei zitieren konnte, scheint gemessen am Applaus gerade das gefallen zu haben. Und doch gibt es für einige beim Rausgehen nur ein Thema: Wie ist das jetzt mit Protest für und gegen Stuttgart 21?