Ende für Marco Goecke Stuttgarter Ballett bald ohne Haus-Choreografen
Stuttgart (dpa) - Seine feinnervigen und oft alptraumhaften Tanzfantasien haben Marco Goecke als Haus-Choreografen des Stuttgarter Balletts zu Weltrum verholfen.
Nun erlebt der erfolgsverwöhnte 45-Jährige seinen eigenen künstlerischen Alptraum: Nach mehr als zehn Jahren von der Kritik gefeierter Ballett-Avantgarde verlängert die Compagnie zum Ende der Spielzeit 2017/2018 den Vertrag nicht. Er wolle die Freiheit haben, nach dem Ende der Intendanz von Reid Anderson im kommenden Jahr selbst neue künstlerische Akzente zu setzen, erklärte der designierte Intendant Tamas Detrich.
Die Nachricht des US-Amerikaners am Dienstag kam so überraschend wie jene im Mai, als der Noch-Intendant Anderson die Zusammenarbeit mit dem zweiten Haus-Choreografen Demis Volpi beendete. Er sehe dessen wahres Talent in der Regie, im Geschichtenerzählen, aber nicht in der Choreografie, sagte Anderson.
Dass es ein Abschied auch dem „Ballett-Erneuerer“ Goecke drohen könnte, lag zwar in der Luft. Die Entscheidung fiel aber endgültig erst am Dienstagmorgen, wie aus der Compagnie zu erfahren war. Demnach war der Künstler am Vortag der Einladung zu einem Gespräch mit seinem künftigen Chef ferngeblieben.
Die Chemie zwischen dem künftigen Intendanten und dem Haus-Choreografen gilt spätestens seit März als vergiftet. Nach einem Gespräch der beiden beklagte sich Goecke damals öffentlich in der „Stuttgarter Zeitung“ darüber, dass Detrich ihn loswerden wolle. Der bestätigte das zwar nicht, sprach lediglich davon, dass er mit allen Künstlern des Ensembles Gespräche führe. Aber Goecke reagierte verärgert über die Unterhaltung kurz vor Beginn der Proben für die Uraufführung des abendfüllenden Balletts „Kafka“. „Wie kann man einen Künstler so sehr destabilisieren?“, fragte Goecke in dem Blatt.
„Ist es meine Arbeit nicht wert, erst auf das Resultat dieses abendfüllenden Balletts zu schauen und eine Entscheidung möglicherweise nochmals zu überdenken?“ Die für 30. Juni angesetzte Uraufführung platzte allerdings. Goecke war krankgeschrieben, und mit 30 Minuten Rohmaterial könne es keine Premiere geben, hatte Anderson erklärt. Ob es jemals zur Aufführung kommt, ist ungewiss.
Sicher ist aber, dass sich der mit vielen internationalen Preisen bedachte „Choreograf des Jahres“ 2015 nun eine neue Wirkungsstätte suchen muss. Andersons Nachfolger Detrich würdigte ihn schon einmal als einen der Großen des von John Cranko zu Weltrum geführten Stuttgarter Balletts: Goecke gehöre zur choreografischen Geschichte des Ensembles wie John Neumeier, Jiri Kylian, William Forsythe, Uwe Scholz und Christian Spuck. Sie alle haben auch nach ihrem Abschied aus Stuttgart ihren Weg gemacht.
Das Stuttgarter Ballett jedenfalls verliert mit dem gebürtigen Wuppertaler jemanden, der seine ganz eigene Tanzsprache hat - augenfällig dabei unter anderem Goeckes intensive Arbeit mit den Armen der Tänzer. Die Compagnie hebt „seine prägnante und avantgardistische Tanzsprache, das Ausloten und Sprengen der ästhetischen Grenzen sowie die völlig neuen Bewegungen“ hervor. Insgesamt zwölf Stücke brachte Goecke in Stuttgart auf die Bühne, darunter eine Neuinterpretation des Ballettklassikers „Der Nussknacker“ (2007) und das abendfüllende Ballett „Orlando“ (2010).
Ein wichtiger Schatz für das Ballett. Aber garantiert ist nicht, ob Goeckes Stücke auch künftig in Stuttgart zu sehen sein werden. Als Autor ist das seine Sache. „Ich würde mich freuen, wenn Marco Goeckes Werke nach wie vor Platz in unserem Repertoire hätten“, sagt der künftige Ballettchef Detrich. Doch nun sei es an der Zeit für neue choreografische Handschriften.
„Ich sehe meinen Auftrag darin, mich auf die Suche nach Künstlern und jungen Talenten zu machen, die meiner Vision für das Stuttgarter Ballett entsprechen“, sagte Detrich. Der Prozess könne Jahre dauern. Noch-Intendant Anderson dürfte das bestätigen. Auch er trennte sich zu Beginn seiner Intendanz vor mehr als 20 Jahren von vielen gestandenen Größen des Balletts, darunter Hauschoreograf William Forsythe. Fünf Jahre dauerte es damals, bis er einen neuen Star fand. Das war Christian Spuck, der inzwischen in Zürich arbeitet.