Endspurt bei der Leoparden-Jagd in Locarno
Locarno (dpa) — Die Spannung kurz vor dem Finale des 66. Internationalen Filmfestivals im schweizerischen Locarno ist groß. Das Angebot des nach Cannes, Berlin und Venedig viertwichtigsten europäischen Filmfestivals bot viel Überzeugendes.
Die Jury hat eine große Auswahl. Zu den Favoriten zählt „Feuchtgebiete“, die Verfilmung von Charlotte Roches Roman, die für Deutschland ins Rennen geht. Doch wer den Hauptpreis, den Goldenen Leoparden, vom Ufer des Lago Maggiore mit nach Hause nimmt, ist nicht voraussagbar.
„Feuchtgebiete“, der von David Wnendt sensibel inszenierte Film, hatte in Locarno einen enormen Erfolg. Gut möglich, dass die Jury das packende Drama um die Rebellion einer 18-Jährigen mit dem Goldenen Leoparden ehrt. Hauptdarstellerin Carla Juri, die im Februar auf der Berlinale als Shooting Star der Schweiz ausgezeichnet wurde, kann sich Hoffnungen auf die Auszeichnung als Beste Schauspielerin mit einem Silbernen Leoparden machen.
Doch die Jury hat reiche Auswahl unter den 20 Spiel- und Dokumentarfilmen des Hauptwettbewerbs. Als Favoriten gehandelt werden auch: das stilvolle Gesellschaftspanorama „Gare du Nord“ aus Frankreich (Regie: Claire Simon) und dessen Hauptdarstellerin Nicole Garcia, die sozialkritische Parabel „El mudo“ aus Peru vom Regie-Duo Daniel und Diego Vega, das verhaltene US-amerikanische Jugendheimdrama „Short Term 12“ von Destin Cretton und der Filmessay „Tableau Noir“, in dem Regisseur Yves Yersin (Schweiz) feinfühlig den Unterricht in einer Zwergschule in den Bergen dokumentiert.
Neben Carla Juri und Nicole Garcia hat auch die US-Amerikanerin Brie Larson in der Rolle einer Erzieherin in „Short Term 12“ Chancen, als beste Schauspielerin ausgezeichnet zu werden. Als bester Schauspieler werden der Peruaner Fernando Bacilio, Hauptdarsteller in „El mudo“, der Franzose Vincent Macaigne als abgehalfterter Rockmusiker in der Kleinstadtballade „Tonnerre“ und der Japaner Masaki Suda, Hauptdarsteller der Familientragödie „Tomogui“, oft genannt.
Wie auf vielen Filmfestivals, kann die Jury aber auch in Locarno entgegen allen Erwartungen entscheiden. Das Votum hängt in hohem Maße davon ab, ob die Zuneigung der Juroren eher Filmen und schauspielerischen Interpretationen gilt, die sozial stark verankert und für ein Massenpublikum gedacht sind; oder ob sie solche favorisiert, die weniger Wert auf Inhalt und Verständlichkeit als auf ausgefallene Ästhetik und hohen Kunstanspruch legen.
Ein Urteil steht in jedem Fall fest: das Festival hat qualitativ ein hohes Niveau geboten. Carlo Chatrian, dem neuen künstlerischen Direktor, gelang es beispielsweise auch, mit sehr unterhaltsamen Filmen außerhalb des Wettbewerbs die jeweils 8000 Besucher der abendlichen Freiluftaufführungen auf der Piazza Grande der mittelalterlichen Kleinstadt zu begeistern. Damit bot das Festival in Locarno eine sehr gute Balance zwischen der Förderung anspruchsvoller junger Filmkunst einerseits und der Befriedigung des Bedürfnisses nach Entspannung und Glamour andererseits. Besser geht’s kaum.