Gefangen im sozialen Elend

Drama: Das sowohl rührende als auch schockierende Gesellschaftsdrama „Precious“ heimste zwei Oscars ein.

Es dauert lange, bis der Zuschauer die 16-jährige Claireece, genannt Precious (gesprochen: präsches; zu deutsch: wertvoll), zum ersten Mal lachen sieht. Kein Wunder. Ihr Leben ist die Hölle. Von den wechselnden Freunden der stets zugedröhnten Mutter (Oscar als beste Nebendarstellerin: Mo’Nique) wurde sie seit ihrem dritten Lebensjahr vergewaltigt. Dabei hat sie sich mit HIV infiziert. Mit 13 bekam sie eine Tochter mit Down-Syndrom. Mit dem zweiten Kind ist sie schwanger, ohne es zu ahnen.

Ihre sachten Versuche, mittels Sozialhilfeprogrammen in Ausbildung zu kommen, torpediert die Mutter mit ausgesuchter Hinterhältigkeit. Sie will Precious bei sich haben, sie wie eine Sklavin halten. Zur Disziplinierung gehört beispielsweise, die übergewichtige Teenagerin bis zur Besinnungslosigkeit gekochte Schweinsfüße essen zu lassen.

"Precious" ist harte Kost und aufgrund der ausufernden Kulminierung an gesellschaftlichem Elend im ersten Moment auch etwas unglaubwürdig. Letzten Endes will die Geschichte aber gar keine authentische Milieustudie sein. Es geht um die Erkenntnis, dass es selbst aus der schlimmsten Tristesse einen Ausweg gibt. Precious meldet sich an einer Schule für soziale Härtefälle an, ihre Lehrerin (Paula Patton) fördert sie, und trotz weiterer schwerer Rückschläge schafft es Precious, der mütterlichen Drogenhölle zu entkommen.

Etwas überraschend gewann der Film auch den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Bemerkenswert ist er aber nicht wegen seiner Emanzipationsgeschichte, die austauschbar bleibt, sondern wegen seiner soghaften Inszenierung. Jede kleine Gemeinheit, jedes kapitale Verbrechen, das die Mutter ihrer Tochter zufügt, ist ein tief sitzender Schock, der dem Zuschauer physisch weh tut. Weil Regisseur Lee Daniels nichts ausspart, nimmt man ihm die überfrachtete Story ab und flüchtet verzweifelt mit Precious in ihre grellen Tagträume, in denen sie ein gefeierter Filmstar ist. Die Botschaft ist klar: Solange du nur träumst, holt dich die Realität immer wieder ein. sg

WZ-Wertung: Vier von fünf Punkten