Preview Racheengel mit Dum-Dum-Geschossen - „Tatort“-Saison startet blutig
Was tun, wenn Verbrecher frei herumlaufen? Im Wilden Westen war die Antwort klar. Doch auch heute treibt ungesühntes Unrecht Menschen zur Selbstjustiz. Wenngleich selten so spektakulär wie im neuen "Tatort".
Luzern. "Tatort"-Fans können aufatmen. Die Sommerpause ist vorbei. An diesem Wochenende gibt es wieder frisches Blut. Und zwar in erheblichen Mengen. Hinzu kommen noch geborstene Schädel und freigelegte Gehirnmasse. Mit simplen Kopfschüssen haben sich die Schweizer "Tatort"-Macher - von der deutschen Kritik gern mal als Langweiler verspottet - nicht zufriedengegeben. In „Ihr werdet gerichtet“ (Sonntag, 20.15 Uhr) reißt der Täter seine Opfer mit abgefeilten Projektilen von den Beinen, die Fachleute als Deformationsmunition kennen - und der Laie als Dum-Dum-Geschoss.
Dass die neue "Tatort"-Spielzeit in Luzern startet, wo die vorige Anfang Juli mit dem schlechtesten Zuschauerwert der Serie seit fünf Jahren (6,12 Millionen) aufhörte, ist eher Zufall und wohl kein böses Omen. Sicher, die Schweizer Ermittler Reto Flückinger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) haben es bei den Deutschen um einiges schwerer als deren Publikumslieblinge aus Münster oder Köln.
Und natürlich lassen sich auch beim neuen Eidgenossen-"Tatort" Haare in der Inszenierungssuppe finden (bei welcher deutschen Reihe ist das nicht so?). Insgesamt präsentieren die Schweizer aber einen sehenswerten Krimi mit Action und Spannung. Was bei einer Story-Konstruktion wie dieser - der Zuschauer kennt den Täter fast von Anfang an - gar nicht so leicht ist. Dass es Regisseur Florian Froschmayer dennoch gut gelang, ist auch dem intensiven, Mitgefühl weckenden Spiel von Antoine Monot jr. zu verdanken.
Als kaltblütiger Heckenschütze versetzt der bärtige Dicke - beim ZDF sah man ihn als Rechtsanwalt Benni Hornberg in "Ein Fall für zwei" - Luzern in Angst und Schrecken. Erst knallt er zwei albanischen Autohändlern mit seinen Wuchtgeschossen die Schädeldecken weg, dann lässt er einen reichen Treuhänder in hohem Bogen aufs Pflaster fliegen. Das ist fast schon cooles Quentin-Tarantino-Kino, wenngleich auch wieder gefolgt von behäbigen Szenen mit bemerkenswert unaufgeregten Dialogen über diesen eigentlich doch haarsträubenden Kriminalfall.
Gravuren auf den Geschossen, die in den Schädeln der Opfer stecken geblieben sind, bringen Flückinger und Ritschard auf die Spur: jedes ist mit einem Paragrafenzeichen versehen, dem Symbol der Justiz, des Rechts. Und waren nicht alle Opfer selbst Verbrecher, die der Justiz durch die Maschen schlüpfen konnten? Schläger, die einen jungen Mann zum Krüppel gemacht haben. Ein notorischer Raser, der schuld ist am Tod einer Mutter und ihres Kindes. Hier mordet also ein Serienkiller im Namen von Justitia. "Er will, dass wir ihn sehen", erkennt Liz Ritschard.
Und die Paragrafenzeichen mehren sich. Als SMS auf den Handys der Kommissare. Und garantiert, wenn man den Schützen nicht stoppt, auch wieder auf Geschossen in den Köpfen weiterer Opfer. „Es gibt keine Gerechtigkeit, außer man sorgt für Gerechtigkeit“, so erklärt der Rächer sein Tun. Was ihn insgeheim treibt, ist das Schicksal seiner Frau. Sie ist in Lethargie verfallen, das Opfer eines Vergewaltigers, der nicht mehr auffindbar ist.
Schuld sei doch im Grunde eine neue Strafprozessordnung, die dafür sorge, dass Verfahren unendlich hinausgezögert werden und dass Täter sich ihrer Strafe entziehen können, meint Flückiger in einem Anflug von Sympathie für den Heckenschützen. "Müssten wir so lange auf Gerechtigkeit warten, würden wir vielleicht auch mal die Nerven verlieren."
Widerwillig telefonieren die Kommissare potenzielle Opfer des Rächers ab - allesamt Straftäter ohne Verurteilung -, um sie zu warnen: "Passen sie auf sich auf, gehen sie nicht allein auf die Straße." Zugleich stellen sie dem Rächer Fallen, provozieren ihn - bis er anfängt, Fehler zu machen. Die Schlinge zieht sich langsam zu. Der Zuschauer ertappt sich dabei, das zu bedauern - bis der selbst ernannte Scharfrichter sogar einen Freund umbringt, um nicht aufzufliegen. Spätestens da ist klar, dass dieser Fall ein besonders tragisches Ende nehmen wird.