Regisseur Brüggemann: Subtile Gewalt in Familien ist ein Tabu
Berlin (dpa) - Die Geschwister Anna und Dietrich Brüggemann arbeiten bereits seit Jahren zusammen und schufen so mehrere Kinofilme. Ein Doppel-Interview zu ihrem Berlinale-Beitrag „Kreuzweg“, für den sie nun den Preis für das beste Drehbuch erhielten.
Ihr Film „Kreuzweg“ war einer der vier deutschen Beiträge, die in diesem Jahr im Wettbewerb der Berlinale zu sehen waren. Darin erzählt Regisseur Dietrich Brüggemann die Geschichte der 14-jährigen Maria, die in einer streng-katholischen Familie aufwächst. Dietrich Brüggemann (37) schrieb das Drehbuch zusammen mit seiner Schwester Anna (32). Am Samstag (15. Februar) nahmen die Geschwister bei der Berlinale-Preisgala die Auszeichnung für das beste Drehbuch entgegen.
„Kreuzweg“ beschäftigt sich mit dem fanatischen Glauben einer deutschen Familie. Sind Sie über persönliche Bezüge auf dieses Thema gestoßen?
Dietrich Brüggemann: Das Thema ist ja überall, in verschiedensten Ausprägungen. Vom radikalen Islam beispielsweise liest man permanent. In Amerika muss man nur übers Land fahren und das Radio einschalten und man hört Christian Talk Radio mit lauter wahnsinnigen Predigern. Die Pius-Brüder, um die es in diesem Film geht, sind dazu eher ein Abseits-Phänomen. Gleichzeitig sind sie in der katholischen Kirche aber sehr zentral, denn sie stellen dieser großen Weltreligion die Frage: „Wie willst du sein? Wir machen es, wie du es immer gemacht hast.“
Wir hatten in unserer Jugend einen kurzen Berührungspunkt damit. Unser Vater ist im Katholizismus mit der alten Kirche aufgewachsen. Wir sind ab und zu in die Kirche gegangen, mehr nicht. Dann gab es aber eine Phase, in der sich unser Vater mehr dafür interessiert hat. Und als dann jemand gesagt hat, dass es da eine Gemeinde gibt, die den Glauben praktiziert wie früher und ohne moderne Einflüsse, sind wir ein paar Mal hingegangen. Zum Glück ist uns dann aber schnell aufgefallen, dass diese Gruppe allerhand Begleiterscheinungen einer Sekte hat.
Anna Brüggemann: Die Pius-Brüder sind keine Sekte. Man kann jederzeit wieder gehen, man muss keine Beiträge zahlen. Was wir aber sektenähnlich fanden, war diese Geisteshaltung „Wir als Stellvertreter Gottes können in dein Herz und dein Gehirn hineinschauen. Ausgerechnet wir haben die Wahrheit gefunden. Die Welt heute folgt dieser Wahrheit nicht und ist verdorben.“
Als es dann jetzt die vielen Berichte über sexuellen Missbrauch an Schulen und Internaten gab, haben wir uns überlegt, dass eine streng religiöse Erziehung auch immer ein seelischer Missbrauch ist. Darüber wird aber wenig gesprochen. Genau das hat uns aber daran interessiert. Unsere Protagonistin hat daher zwei einengende Klammern: eine strenge Mutter und eine rigide Religion.
Sie sprechen damit auch das Verhalten der Mutter an, die ihre Tochter Maria immer weiter unter Druck setzt - eine Art Missbrauch?
Dietrich Brüggemann: Der Film enthält eine Essenz von dem, was in sehr vielen Familien passiert - egal, ob religiös oder nicht. Damit meine ich Machtausübung und das Brechen eines heranwachsenden Individuums. Das sind alles sehr subtile und private Erfahrungen, die viele Menschen eint und die viele mit sich herumtragen. Über subtile Gewalt in der Familie spricht man aber nicht. Dieses in einem Film in all seiner Wucht und Brutalität darzustellen, holt es von der Sphäre des Privaten in die Öffentlichkeit. Ich glaube, dass diese Thematisierung extrem wichtig ist.
Dieses Ringen der Protagonistin fangen Sie vor allem in starren Einstellungen ein. Wie lange mussten Sie die proben?
Dietrich Brüggemann: Lange. Wir haben jede Szene einzeln geprobt, meist jeweils einen Tag. Ich habe das damals schon bei meinen HFF-Abschlussfilm gemacht. Ich fand es künstlerisch hochinteressant, mich auf das zu beschränken, was den Film zu einem Erlebnis macht: die Interaktion der Schauspieler. Die simpelste Art, das zu erzählen, ist die Kamera hinzustellen und laufen zu lassen. Das muss man natürlich klug bespielen, damit sich die Zuschauer nicht langweilen und im Idealfall gar nicht darüber nachdenken, ob sich die Kamera bewegt oder nicht.
Darauf werde ich immer wieder zurückkommen. Zum einen, weil es fantastisch funktioniert. Und zum anderen, weil es Spaß macht. Ein Film hat in der traditionellen Herstellungsweise etwas sehr Quälendes. Man baut eine Einstellung nach der anderen, Totale, Details, erst das eine, dann das nächste. Das, was uns eigentlich interessiert - Spannungen und Interaktion zwischen Menschen - bleibt dabei oft auf der Strecke. Gleichzeitig behandle ich mit den starren Einstellungen die Zuschauer wie erwachsene Menschen; sie können selber entscheiden, wo sie hingucken, das gebe ich nicht vor.
Welche Vorteile kann das beim Drehen haben?
Dietrich Brüggemann: Sämtliche Kamera- und Lichtumbauten fallen weg, wir haben die maximale Zeit zum Spielen. Wir haben jede Szene in Ruhe mehrere Male hintereinander gedreht, so dass es eine unbewusste Automatik erhält. Irgendwann ist es ähnlich wie Fahrradfahren.
Wie arbeiten Sie beide als Team beim Drehbuchschreiben zusammen?
Dietrich Brüggemann: Schreiben hat zwei Aspekte. Es gibt dieses architektonische, gestalterische Pläne-Zeichnen. Wir entwickeln die Figuren gemeinsam, skizzieren die Handlung, füllen das Konstrukt allmählich mit Leben. Dabei geht es allerdings weniger ums Schreiben, sondern eher ums Denken. Danach schreibe ich die einzelnen Szenen und Dialoge meist allein. Allerdings bleiben wir aber auch dann in engem Kontakt, sprechen Szenen durch und feilen oder verändern einzelne Dialoge.
Wie verändert sich Ihre Zusammenarbeit danach, wenn Sie, Herr Brüggemann, die Regie, und Sie, Frau Brüggemann, eine Rolle als Schauspielerin im Film übernehmen?
Anna Brüggemann: Ich klinke mich dann viel mehr aus. Wenn ich spiele, habe ich nichts mehr mit den anderen Dingen zu tun. Manchmal ändert Dietrich dann auch noch den Text. Aber das geht mich dann nichts mehr an. Der Unterschied ist, dass wir beim Schreiben beide so sein können, wie wir sind. Das ist sehr angenehm, dieses Ideen-Rumwälzen als Team. Beim Dreh schlüpfen wir dann jeder in eine andere Rolle, die des Regisseurs und die der Schauspielerin.
Anna und Dietrich Brüggemann sind Geschwister, die bereits mehrere Kinofilme zusammen realisiert haben. So schrieben sie gemeinsam die Drehbücher zu „3 Zimmer/Küche/Bad“ sowie „Renn wenn du kannst“, bei denen Dietrich Brüggemann (37) auch Regie führte und Anna Brüggemann (32) als Schauspielerin Rollen übernahm. Beide wurden in München geboren.