Akzeptiert Bern das Gurlitt-Erbe?
Bern (dpa) - Ob der Münchner Kunstsammler Cornelius Gurlitt dieses Buch kannte, weiß man nicht, aber möglich wäre es: „Das Geschäft mit der Raubkunst - Fakten, Thesen, Hintergründe“.
Erschienen ist es 1998 im Verlag der „Neuen Zürcher Zeitung“. Geschrieben hat es deren damaliger Kulturredakteur Matthias Frehner. Seitdem gilt er als Experte für Kunstwerke, die ihren Eigentümern, meist jüdischen Familien, von den Nationalsozialisten geraubt wurden. Heute ist Frehner Direktor des Kunstmuseums Bern. Jenes Museums, das Gurlitt zum Alleinerben seiner geheimnisumwobenen Sammlung bestimmt hat, in der es wohl hunderte Werke mit Raubkunstverdacht gibt.
Gurlitt selbst hatte noch vor wenigen Wochen einer Untersuchung der Herkunft aller Werke seiner Sammlung zugestimmt. Auf Frehner und dessen Museum könnte er vor vier Jahren aufmerksam geworden sein, als die Berner in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München ihre Sammlung Schweizer Kunst zeigten.
„Möglich wäre das“, sagte Frehner am Donnerstag im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Doch wir wissen es nicht und könnten nur spekulieren.“ Begegnet ist Frehner dem Sohn und Erben von Hildebrand Gurlitt, einem der bevorzugten Kunsthändler Adolf Hitlers, jedenfalls nie. „Die Mitteilung, dass wir Alleinerbe seiner Sammlung sein sollen, kam wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel“, sagt er.
Seitdem bewegen sich Frehners Gedanken und Gefühle zwischen Euphorie und Frust. Euphorie angesichts der Chance, aus Gurlitts Bilderschatz eine international stark beachtete Ausstellung mit sensationellen Werken der Klassischen Moderne auszurichten. „Wir könnten Bilder, die man sehr lange nicht oder vielleicht überhaupt noch nie gesehen hat, erstmals zeigen. Das ist eine einzigartige Herausforderung.“
Frust angesichts der Probleme, die das Gurlitt-Geschenk mit sich bringt. Und die unter Umständen dazu führen könnten, dass der Stiftungsrat, das Entscheidungsgremium des Kunstmuseums, sich gezwungen sieht, das verlockende Erbe auszuschlagen.
Demnächst kommt der Rat zu einer Sondersitzung zusammen. Dann sollen „vorläufige strategische Entscheidungen“ gefällt werden. Bis zur endgültigen Entscheidung hat der Rat sechs Monate Zeit. In dieser Frist gilt es vor allem zwei Aspekte zu klären: Ist die Sammlung überhaupt künstlerisch so bedeutend und qualitativ hochstehend, wie man aufgrund einiger Medienberichte zwar vermuten, aber bisher durchaus nicht gesichert wissen kann?
Frehners renommiertes Haus gilt als das älteste Kunstmuseum der Schweiz mit einer permanenten Sammlung. Sie reicht von der Gotik bis zur Gegenwart und umfasst bedeutende Werke, darunter von Pablo Picasso, August Macke, Paul Cézanne und Meret Oppenheim. Kann daneben bestehen, was Gurlitt gespeichert und verborgen hatte - künstlerisch und nicht allein vom Sensationswert her?
Viel schwieriger wird die moralisch, ethisch und juristisch bedeutendere zweite Frage zu beantworten sein: Lassen sich Raubkunst und Werke mit sauberer Herkunft mit vertretbarem Aufwand voneinander trennen oder würde die Provenienzforschung die Berner noch über etliche Jahre hinweg beschäftigen?
Die Herkunftsabklärung werde aufwendig und teuer, sagte der Schweizer Kunst-Experte Thomas Buomberger voraus. Stiftungsgelder wollen die Berner dafür nicht einsetzen. Kosten müssten also aus dem Gurlitt-Erbe selbst gedeckt werden.
Klar ist, dass auch die Schweizer Behörden eine lückenlose Prüfung Bild für Bild erwarten. Man werde strikt darauf achten, dass die Nachlassabwicklung „den internationalen und nationalen Normen entspricht“, heißt es im Schweizer Bundesamt für Kultur (BAK). Die Eidgenossenschaft hatte 1998 die Washingtoner Erklärung unterzeichnet und sich damit verpflichtet, Nazi-Raubkunst zu identifizieren, die rechtmäßigen Besitzer zu finden und die Werke entweder zurückzugeben oder eine „faire Lösung“ zu finden.
Für Frehner ist das selbstverständlich. „Natürlich muss man jedes Gesuch auf Rückübertragung sorgfältig prüfen. Aber wenn die Fakten klar sind, dann ist auch unsere Reaktion klar. Dann muss es zu einer Restitution kommen.“
Angesichts eines solchen Berges von Aufgaben und Problemen kann es also noch Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis Frehners Traum wahr wird: die Eröffnung der ersten Ausstellung von Werken aus der Gurlitt-Sammlung. Danach könnten auch Museen in Deutschland zum Zuge kommen. Die Berner wären bereit zu Leihgaben und Wanderausstellungen. „Ich habe bereits eine Anfrage von einem Kollegen in München“, sagt Frehner. Vom wem konkret, sagt er vorerst nicht.