Besucherrekord zur documenta-Halbzeit
Kassel (dpa) - Halbzeit bei der documenta - und von Kritik und Skandalen kaum eine Spur: Dafür steuert die weltweit wichtigste Schau der zeitgenössischen Kunst auf einen Besucherrekord zu. Bis Samstagabend, zur Halbzeit der Schau nach genau 50 Tagen, rechnen die Macher mit rund 378 000 Besuchern, wie die documenta bereits am Freitag mitteilte.
Bei der zwölften Ausgabe im Jahr 2007 waren es zur Halbzeit 330 000 und am Ende rund 750 000 Besucher. documenta- Geschäftsführer Bernd Leifeld ist denn auch hochzufrieden. „Diese Ausstellung ist präzise, nicht beliebig. Jedes Kunstwerk spricht für sich.“ Auch diese documenta habe Maßstäbe festgelegt, „an denen sich andere abarbeiten“.
Die documenta (13) hat ihre Tore seit dem 9. Juni geöffnet, sie schließt sie am 16. September. Die Weltkunstschau findet nur alle fünf Jahre in Kassel statt.
„Besonders glücklich macht mich, dass viele Besucher mehrmals wiederkommen, sich bei sich uns zu Hause fühlen in einer Ausstellung, die sowohl sinnliche, perzeptuelle Erfahrungen bietet, als auch eine intellektuelle Herausforderung darstellt“, sagt die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev. Bereits jetzt wurden mehr als 10 000 Dauerkarten verkauft, viel mehr als während der gesamten 12. Ausgabe. Damals waren es 5901 Dauerkarten.
Kritik am Konzept gibt es nur wenig, Skandale seit Ausstellungsbeginn gar nicht. Das Medienecho fiel schon zu Beginn der Schau durchweg positiv aus. „Unbedingt hinfahren!“, sagte Kasper König, Direktor des Kölner Museums Ludwig und einer der einflussreichsten deutschen Ausstellungsmacher. „Eine Weltkunst-Schau, die sich lohnt“, schrieb das „Hamburger Abendblatt“. „Die Welt“ urteilte über Christov-Bakargiev: „Auf hoch respektable Weise setzt sie die Geschichte des stolzen Ausstellungsformats fort.“
Die vom Kasseler Behindertenbeirat kritisierte mangelnde Barrierefreiheit wies Leifeld zurück. Mittlerweile habe die documenta auch Behinderten-Führungen ins Programm aufgenommen, zudem dürfen Blinde bestimmte Kunstwerke mit Handschuhen berühren - das ist sonst streng verboten. „Wenn nun Führungen möglich sind, haben wir schon viel gewonnen“, sagt der Beiratsvorsitzende Helmut Ernst.
Und Skandale, wie sie bei vorherigen Ausstellungen immer wieder vorkamen? Abgesehen von den Vor-documenta-Überlegungen Christov- Bakargievs zu einem Wahlrecht für Erdbeeren und Hunde und einem kurzen Aufreger über eine nicht zur documenta gehörende Skulptur auf einem Kirchturm - nichts. Und es scheint, als kommt auch nichts mehr. „Wir haben keinen Skandal geplant“, sagt Leifeld lachend.
Vielleicht geben ja die Finanzen etwas her: Durch das Konzept der vielen Orte - allein in der Karlsaue stehen rund zwei Dutzend Holzhäuser - ist die Ausstellung deutlich teurer als ihre Vorgänger. Sie freue sich, dass viele Besucher „die vielen Standorte spazierend erkunden“, sagt Christov-Bakargiev. Viele Ausstellungsorte bedeuten aber auch viel Personal bei der Kartenkontrolle, bei der Nachtbewachung oder den Mieten. Die Mehrausgaben würden durch Mehreinnahmen zum Beispiel durch bei Sponsorengeldern aufgefangen, betonte Leifeld, ohne Zahlen zu nennen. Das Fünfjahres-Budget war bei 24,6 Millionen Euro angesetzt.
Laut Leifeld wird die Schau zunehmend von einem Massenpublikum wahrgenommen. Der Besuch von Hollywood-Star Brad Pitt sei Thema in der „Bunten“, auch in der „Vogue“ werde berichtet. „Möglicherweise ändert sich das Publikum.“ Oft sind junge Leute und Familien mit Kindern zu sehen. „Das wandelt sich, ist mein Eindruck.“
Unbestritten zu den Höhepunkten der Ausstellung zählt das Werk des Frankfurter Künstlers Thomas Bayrle: Bundespräsident Joachim Gauck war genauso beeindruckt wie Filmstar Pitt. Bayrle hat ein acht Meter hohes und über 13 Meter breites Schwarz-Weiß-Bild eines Flugzeugs entworfen, das aus unzähligen kleinen Flugzeug-Bildern zusammengesetzt ist. Sieben auf Podeste montierte Automotoren „beten“ Bayrle zufolge und kommentieren so den Traum vom Fliegen.
Für einen besonderen Moment sorgt auch die schottische Künstlerin Susan Philipsz am Kulturbahnhof. Dort erklingt eine 1943 vom jüdischen Komponisten Pavel Haas im Konzentrationslager Theresienstadt geschriebene Melodie. Ein Jahr später kam er in Auschwitz ums Leben. Die sieben Lautsprecher sind an jenen Kasseler Bahngleisen installiert, von denen 1941 und 1942 Juden nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurden. „Wie die Künstlerin mit so einfachen Mitteln eine Wirkung erzielt, ist beeindruckend“, sagt documenta-Besucherin Jutta Bohnen aus Kassel. „Dort zu stehen, wo einst Juden deportiert wurden, macht einen sprachlos.“ Auch Leifeld betonte, die Arbeit habe eine große Emotionalität.
Als Publikumsliebling entpuppt sich die Installation „Leaves of Grass“ von Geoffrey Farmer. Der Kanadier hat Hunderte Fotos aus 50 Jahrgängen des amerikanischen „Life“-Magazins auf feste Grashalme geklebt und so eine bestimmt 20 Meter lange Collage gebastelt. Zu sehen sind Tiere, Autos und Menschen, Albert Einstein, die Beatles, der junge John Travolta und die Hochzeit von Lady Diana und Prinz Charles, aber auch Werbung, Panzer und Fotokameras.